Ach, Josef, Du Josefkind. Ein Gastbeitrag von Marlene Hellene.

Ach, Josef, Du Josefkind. Ich durfte dich erst kennenlernen, als du bereits nicht mehr auf dieser Welt warst. Und trotzdem gelang es ganz gut. Das Kennenlernen. Ich weiß, dass sich dein Atem wie Meeresrauschen anhörte. Du hattest schöne Locken, die nach dem Schlafen oft ganz verschwitzt waren. Es gab dieses Muttermal, das deine Mama immer küsste. Überhaupt küsste deine Mama dich viel. Das verstehe ich, du musst wissen, ich bin auch eine Kuss-Mama.

Dein Mund schloss sich nie ganz und um deine Augen vor der Sonne zu schützen zogen deine Eltern dir eine Sonnenbrille auf. Richtig cool sahst du damit aus. Verwegen. Du hattest einen Therapiestuhl, auf dem du throntest wie ein kleiner König. Und du warst krank. Sehr krank. Auch das warst du. Auch das gehörte zu dir. Die Krämpfe, das Fieber, die fehlenden Schutzreflexe, das viele Sekret, das in Strömen aus Mund und Nase lief. Deine Krankheit nicht als Teil von dir zu akzeptieren, wäre Verrat an dir gewesen. Und das hätten deine Eltern nie getan. Dich verraten.

„Ich könnte das nicht. Ich hätte die Kraft nicht.“ Das ist natürlich Quatsch.

Überhaupt deine Eltern. Uli und Anne. Anne und Uli. Du hast dir die richtigen ausgesucht. Aber das weißt du selber noch besser als ich. Beim Lesen von Annes Texten denke ich oft reflexartig: „Ich könnte das nicht. Ich hätte die Kraft nicht.“ Das ist natürlich Quatsch.

Du hast Dir nicht ausgesucht, krank zu sein. Deine Eltern hatten keine übernatürlichen Kräfte. Deine Eltern hatten keine Wahl. Du hattest keine Wahl. Und hätte ich keine Wahl gehabt, dann hätte ich das auch gekonnt. Wie die meisten. Es gab kein oder, keinen Ausweg. Die Frage ist nur, wie ich es geschafft hätte. Und das Wie macht den großen großen Unterschied.

Deine Eltern haben akzeptiert, was nicht zu ändern war. Das war wahrscheinlich das, das mich manchmal doch an ein klein wenig Superkraftpotenzial bei ihnen glauben ließ. Kein blinder Aktionismus, kein Hadern mit dem Schicksal, kein Ärztemarathon.

Keine Energie verschwenden, sondern mit dir leben - so, wie es möglich war.

Sie haben die Situation so angenommen, wie sie war und das Allerbeste daraus gemacht. Sie haben dir erlaubt, zu sein. Mit deiner Krankheit. Du musstest nichts. Es ging nie darum, dass du gesund wirst. Und das war sehr klug. Keine Energie verschwenden, sondern mit dir leben - so, wie es möglich war. Das war für Anne und Uli das Wichtigste. Das Beste daraus zu machen. In dem Chaos, der Angst und der Unsicherheit.

Sie organisierten sich einen Alltag mit dir. Einen Alltag voller fremder Personen im Haus, deren unterschiedliche Charaktere, Tipps und Herangehensweisen es zu akzeptieren galt. Das Fremde in das Allerprivateste lassen. Es auszuhalten. Miteinander. Anne und Uli waren immer miteinander. Sie hielten sich gegenseitig über Wasser. Sie vergaßen sich nicht, vergaßen nicht, zu sprechen. Das war ein Segen für sie. Sie verstanden sich da, berieten sich gegenseitig, wo andere Paare verstummt und verzweifelt wären. Deine Eltern. Eine Einheit. Für dich.

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Klara blieb leicht. Darüber war ich immer so froh beim Lesen.

Und für Klara. Josef, ich bin großer Klara-Fan. Deine große Schwester, die selber noch so klein war. Sechs Jahre alt war sie. Eine Erstklässlerin. Wie meine Tochter. Auch sie konnte, weil sie musste. Auch sie hatte keine Wahl. Auch ihr Leben änderte sich von heute auf morgen.

Aber sie hörte nie auf zu hüpfen. Auf dem Heimweg vom Hort. Auf euren Spaziergängen ums Feld. Sie hüpfte durchs Kinderhospiz und bildete eine Bande mit den Geschwisterkindern, den Geschwisterkindern, die das alles kannten. Klara blieb leicht. Darüber war ich immer so froh beim Lesen. Und Klara beklagte sich nie, sie verstand, sie war nie wütend. Das bewundere ich an ihr. Anne und Uli halfen ihr dabei. Beim leicht bleiben. Sie passten auf sie auf. Welch großes Glück für Klara. Welch großes Glück ihr alle füreinander wart.

Und wenn wir schon beim großen Glück sind: Das Kinderhospiz. Sogar ich als Leserin hatte jedes Mal das Gefühl, verschnaufen zu können, wenn du im Kinderhospiz warst. Als könnte dir dort nichts geschehen.

Das Kinderhospiz als Kokon. Ein Kokon mit pflegenden Personen, die Kinder wie dich verstanden. Die den Tod zum Leben dazugehören ließen und auch im Schrecklichen Schönes fanden. Deine Eltern hatten die Möglichkeit, Ballast abzugeben und vielleicht spürte ich das.

Vielleicht spürte ich die Steine auf den Schultern deiner Eltern, die im Kinderhospiz plötzlich kieselsteinleicht wurden. Und so wurde ich auch leichter, wenn du auf Hospizurlaub warst. Ich wusste dich dort aufgehoben. Und vor allem auch Klara, Anne und Uli.

Für mich lebst du jetzt.

Ich weiß, wie deine Geschichte enden wird. Du schwebst davon. Endgültig. Noch haben wir ein paar gemeinsame Monate vor uns. Für mich lebst du jetzt. So wie du für die Leser_innen von Annes Texten immer im jeweiligen Augenblick leben wirst. Das macht dich unsterblich. Unsterblichkeit, ganz schön cool oder, Josef?!

Josef, Du konntest nicht schlucken, nicht essen, nicht zwinkern, nicht sprechen, laufen oder greifen. Aber du hast es geschafft, dass sich mir eine Welt öffnete, von der ich zuvor nichts wusste. Du hast mich mitgenommen auf deine Reise, meinen Horizont erweitert und mich Demut gelehrt. Danke dafür, mein liebes kleines Josefkind!

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