Das Schlafzimmer ist der einzige Raum unserer Wohnung, in dem ich keinen Mundschutz trage.

Anne, Judith und Sebastian. Vertraute Menschen. Viele Mails verbinden uns. Gespräche. Lautes und Leises. Besuche, lange Gespräche und Umarmungen. Judith ist so alt wie Klara. Verbindendes. Auch zu Josef. Liebsten Dank für deinen Gastbeitrag, Liebe Anne.

Es ist Januar 2021. Mal wieder ist der Lockdown spürbarer, die Zahl der Corona-Infizierten fällt, steigt, fällt. Corona macht sich auf der ganzen Welt breit. Das hat Auswirkungen auf das Leben eines Jeden.

Gerne möchte ich Euch einen Einblick geben was das bedeutet für eine Familie mit einem Kind mit Komplexer Behinderung. Für mich selber ist der Text ein Zeitdokument, das ich in ein paar Jahren lese und denke: so war das, damals.

Der heutige Alltag ist ein anderer geworden, auch wenn uns vieles auch schon vor Corona vertraut war: Mundschutze hatten wir eh vorrätig. Dass Judith mal länger nicht die Schule besuchen kann, ist leider auch schon ein erprobtes Szenario. Viren, die man auf keinen Fall haben will, weil sie schlimm krank machen können? Damit leben wir. Ein Leben „von heute auf morgen“, jederzeit mit einem Ausnahmezustand rechnend, praktizieren wir ebenfalls seit gut 13 Jahren.

Judith gehört mit ihren Diagnosen eindeutig zur Risikogruppe, eine Infektion mit dem Coronavirus wäre fatal. Nicht nur sie muss geschützt werden, auch wir Eltern sind gefordert, alles zu tun, um uns nicht zu infizieren.
Dass aber nicht nur wir in einem Ausnahmezustand sind, sondern die ganze Welt beteiligt ist, ist gewöhnungsbedürftig, noch immer. Ich finde es nach wie vor höchst komisch mir vertraute Menschen, die ich aus einem nicht-medizinischen Kontext kenne, mit Mundschutz zu erleben. Und bin gleichzeitig sehr dankbar für jeden, der den Schutz der anderen ernst nimmt und den Mundschutz konsequent (und richtig) trägt.

Der Kinder-Intensivpflegedienst darf weiterhin kommen, was für ein Glück. Es schwingt jedoch jederzeit die Sorge mit, dass der eh schon sehr knapp belegte Dienstplan weiter zusammenschrumpft, weil eine Pflegekraft in Quarantäne muss. Und da uns die Pflegekräfte ans Herz gewachsen sind, beruht die Rücksichtnahme auf Gegenseitigkeit. Die Pflegekräfte tragen den ganzen Dienst über Mundschutz.

Wir tragen einen Mundschutz, wenn wir den Pflegekräften in der Wohnung begegnen. Sobald ich zu Hause Schritte höre, greife ich zur Maske. In der Hosentasche ist der Mundschutz stets griffbereit. Das Schlafzimmer ist der einzige Raum unserer Wohnung, in dem ich keinen Mundschutz trage.
FFP2-Masken sind seit Frühjahr 2020 unsere Chance, wieder einigermaßen entspannt einen Supermarkt betreten zu können. Im Januar 2021 wurde das Tragen von FFP2-Masken in den Öffentlichen Verkehrsmitteln beschlossen. Nun also für alle, auch schön.

Schule. Tja.
Längere Fehlzeiten hatte Judith schon immer mal. Nur: dieses Mal sollte sie zu Hause bleiben, obwohl es ihr gesundheitlich gut geht. Diesen Umstand zu verstehen und zu akzeptieren fiel ihr lange Zeit schwer. Sie verfiel in eine Lethargie, zog sich zurück. Aber auch das ist Judith: sie reagiert erst einmal mit großer Ablehnung auf alles Neue, protestiert, um es dann nach einiger Zeit in ihren Alltag zu integrieren und als gegeben anzunehmen. Wird dann wieder etwas geändert, wird auch dagegen erstmal protestiert. So hat sie sich mittlerweile (Stand Januar 2021) recht gut arrangiert.

Eine spürbare Erleichterung zeigte sie, als nicht nur sie zu Hause blieb, sondern die Schule für alle Schüler geschlossen wurde. Somit wurde die vermisste Gerechtigkeit für sie wieder hergestellt. Spannend wird es werden, wenn die Schulen wieder öffnen. Wir werden sie aber vermutlich vorerst weiter zu Hause beschulen und die Fallzahlen weiter beobachten.

Die Schule hat mittlerweile eine Lernplattform eingerichtet, auf der regelmäßig neue Inhalte eingestellt werden. So ist das iPad treuer Alltagsbegleiter für Judith geworden und „komm, wir gucken mal, ob es was Neues von der Schule gibt“ lässt die Stimmung steigen. Aktuell geht es um das Thema „Religionen“, wir haben Filme über das Judentum gesehen, ein eigenes „Kirchenfenster“ gebastelt, ein Salzlicht beim Entstehen beobachtet, …

Zweimal wöchentlich gibt es neuerdings für eine halbe Stunde Online-Unterricht. Judith hat großes Interesse an diesen Events, so kann sie die ihr vertraute Menschen sehen, sogar mal ohne Mundschutz.

Auch der Konfirmandenunterricht findet online statt. Judiths Assistentin sitzt mit FFP2-Maske außerhalb des Bildschirms und antwortet für sie, wenn Fragen gestellt werden. Nach einigem Ausprobieren scheint es sich zu bewähren, wenn Judith die Fragen ein paar Tage vorab bekommt, so dass wir in Ruhe über eine ja/nein-Abfrage eine Antwort herauskitzeln können.
So war mal eine Frage: „Was war Dein liebster Gottesdienst?“ Nach einer Stunde Fragen und überlegen stand die Antwort: der Traugottesdienst ihrer Tante, damals, vor sechs Jahren. Warum? Weil der Pastor in der Predigt eine Clownsnase aufgesetzt hat und weil Judith Blumenmädchen war. Es wäre außerhalb des Möglichen gewesen, diese Antwort während des Konfiunterrichtes zu erfahren und gleichzeitig noch den Anderen zuzuhören!

Soziale Kontakte sind seit März 2020 stark reduziert. Unser großes Glück war, dass uns im Sommer ein Kleingarten zufiel. Den teilen wir uns mit einer Freundin. So hatten wir im Sommer viele schöne Begegnungen an der frischen Luft. Judith bekam einen Stammplatz unterm Baum, ein Radio und eine Hängematte und so konnten wir einen recht unbeschwerten Sommer erleben. Für Gemeinschafts-Arbeiten steht auch im Garten der obligatorische Mundschutz-Karton und wir waren von Tag eins an die Freaks, die mit „dem“ Kind, die auch draußen Mundschutz tragen. Durch den Garten hatten wir einen Ort, an dem wir pandemiegerecht Freunde und Familie empfangen und bewirten können.

Wieder einmal mache ich mir Gedanken über die gesellschaftliche Stellung von Kindern, die in ihren Familien gepflegt werden. Sie rücken gerade gefühlt noch weiter aus der öffentlichen Wahrnehmung. Ich las erste Listen, wer kostenlose FFP2-Masken bekommt. Menschen mit COPD, Menschen mit Asthma. Beides hat Judith nicht. Sie hat auch keine Trisomie 21. Damit erfüllt sie formal keine der Anforderungen auf der Liste.

Ich habe beim Bürgertelefon zur gesundheitlichen Prävention des Bundesgesundheitsministerium angerufen. Habe gesagt: Meine Tochter ist schwerkrank, sie wird in diesen Listen nicht berücksichtigt. Sie haben so ziemlich alle chronisch kranken Menschen unter 60 vergessen. Sie wollten es weitergeben. Irgendetwas muss passiert sein, denn tatsächlich haben wir jetzt Maskengutscheine zugeschickt bekommen. Mir geht es nicht um drei kostenlose FFP2-Masken. Seit März letzten Jahres kaufen wir sie. Das ist ok, wir können es uns leisten, passt schon. Aber: wird diese Personengruppe gesehen? Und wenn ja, wie wird sie gesehen?

Was ist mit der Impfung? Stand heute ist sie erst für Menschen ab 16 Jahren zugelassen. Judith ist 13. Sie fällt also auch hier „raus“. Die Listen, wer wann geimpft wird, entsprechen für so manche Personengruppe nicht immer der Dringlichkeit. Wir warten geduldig und beobachten hier die weiteren Entwicklungen.

Nun macht Judiths Grunderkrankung keine Pause. Die Arztbesuche vor Ort reduzieren wir auf ein Minimum, vieles lässt sich telefonisch oder per Mail klären. Spannend war und ist die Material- und Medikamentenversorgung. Es ist immer wieder eine Zitterpartie, ob bestimmte Medikamente oder Hilfsmittel lieferbar sind. Und wenn nicht, durch was diese ersetzt werden.

Ein sondengängiger Magenschutz ist seit Monaten nicht lieferbar, Judith bekommt dieses Medikament nun zusammen mit dem Essen über den Mund, was nicht wirklich optimal gelöst ist. Es bleibt spannend, wie sich der Markt weiter entwickeln wird. Wir müssen aktuell ein genaues Auge auf alle Vorräte werfen, mit den Versorgern im engen Kontakt stehen, damit keine großen Versorgungsengpässe entstehen.

Unser ganz großes Bestreben ist, dass Judith -nicht nur jetzt- um einen Krankenhausaufenthalt herumkommt. 2020 war sie einige Male stationär; Es war gefühlt jeden Tag eine andere Zugangsregelung: mit Ausfüllen eines Besucherbogens/mit Passierschein (Worte, die ich bisher nur aus „Astérix“ kannte), mit/ohne Temperaturmessung, wahlweise mit Datums-Aufkleber: „Besucher“, Begrüßung durch einen Security-Menschen, der den Mundschutz mal unter der Nase, mal gar nicht oder auch korrekt trug.

Ich weiß nicht, wie es aktuell so ist. Gibt es wieder Händedesinfektionsmittel in jedem Spender? Dürfen Eltern ganztags ihre Kinder besuchen kommen? Wie aus- und überlastet ist das Personal? Wie voll ist aktuell Judiths Stamm-Klinik? Wird sie aufgenommen, wenn es sein müsste? Oder müsste sie in eine Klinik, die weiter weg ist? Szenarien, die mir durch den Kopf gehen. So habe ich für die eigene Planbarkeit mittlerweile wieder einen gepackten Koffer den ich im Fall der Fälle greifen kann, um bei Judith sein zu können wenn sie ins Krankenhaus muss. Innerlich bin ich darauf eingestellt dann 24/7 die Pflege zu übernehmen.

In mancherlei Hinsicht müssen wir also mit mehr Unsicherheiten leben.
Es gäbe viel zu verbessern, zu jammern und zu beanstanden. Und doch… sind wir in Frieden mit dem, wie es sich jetzt „eingeruckelt“ hat. Die Einschränkungen sind fühl- und sichtbar. Wir sind damit nicht allein und es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir geben unseren kleinen Teil dazu, nehmen die Einschränkungen in Kauf in der Hoffnung, dass die Situation irgendwann für alle wieder besser wird.

Das Bewegte Leben heißt der Blog, in dem Anne darüber schreibt, wie das Leben mit ihrer Tochter Judith ist. Unsere Folgeempfehlung auf Twitter: @dasbewegteleben




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