Gut, sage ich. Okay, sage ich. Wie wir durch Sprache den Boden unter den Füßen spüren lernen.

Simon ist Sprachwissenschaftler und hat uns vor einiger Zeit über Twitter auf die Häufung der Wendung "Gut, sage ich" in Annes Blogposts angesprochen. Wir finden Wissenschaft sehr spannend und wichtig, vor allem weil sie beschreibt und nicht bewertet.
Wir freuen uns sehr, dass wir Simon für einen Gastbeitrag gewinnen konnten!

Wenn wir sprechen oder schreiben, greifen wir vielfach auf Routinen zurück. Wir müssen nicht alles immer wieder ganz aufs Neue formulieren, sondern können auf schon oft erprobte Muster zurückgreifen, die sich bewährt haben und uns deshalb auch Sicherheit geben. Und über je individuelles Sprechen hinaus heißt eine Sprache zu haben womöglich genau dies: eine Struktur zu haben, die uns Orientierung und Halt gibt, und die uns Verständigung ermöglicht.

Was Sprache allgemein auszeichnet, zeigt sich in Momenten traumatischer Erfahrung in besonderer Weise. Das Erleben selbst ist subjektiv, individuell und womöglich verstörend. Doch wenn wir Worte finden, und seien es noch nicht einmal Worte für das Erlebte selbst, sondern routinehafte Formeln für Alltägliches, mag uns das Halt geben und auch das Erleben fassbar machen.

Für eine Sprachwissenschaft, welche sich für die besondere Leistung sprachlicher Routinen interessiert, sind Texte wie die auf 22monate.de sehr aufschlussreich, da sie nachvollziehbar machen, wie solche Routinen zurückgewonnen werden und was diejenigen für sich zurückgewinnen, die über sie verfügen.

Sprachwissenschaftliche Zugänge zu Alltagsroutinen

Computergestützte Methoden der Sprachwissenschaft können sich solchen sprachlichen Routinen auf eine interessante Weise nähern, indem in Texten sogenannte Ngramme, also Mehrwortverbindungen ausgezählt werden. Dadurch fällt der Blick weniger auf das im Einzelfall Herausstechende, sondern auf das sich Wiederholende, das sich offenbar im Formulierungsprozess bewährt hat.

In den Texten von 22monate.de zeigt eine Analyse nach Ngrammen, dass neben dem mantrahaften Einatmen und Ausatmen auch das Muster Gut, sage ich sehr häufig ist. Allerdings zeigt sich auch, dass es über die einzelnen Monate ungleich verteilt ist. Unmittelbar nach Josefs Geburt ist es noch selten, wird dann häufiger und scheint ab den 4. Monat als alltägliche Routine fest etabliert. Die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind, ein kurzes Innehalten und es gut sein zu lassen, oder auch Pläne machen und als solche bejahen zu können – all das sind offenbar Dinge, die Anne erst wieder gelernt und für sich erreicht hat. Gut zu sagen, so formulieren es Anne und Uli selbst, ist dann ein „Ritual, um den Boden unter den Füßen zu spüren“.

Nicht mehr „gut“, aber noch „okay“

Ab dem 9. Monat ist das sehr ähnliche Muster Okay, sage ich häufig zu finden. Die Differenz ist nuancenhaft und kaum allgemeingültig zu erfassen. In den Texten erscheint es oft in Reaktion auf die erhobenen Werte wie Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung usw. und scheint mithin ein Ausdruck des routinierten Abarbeitens des Üblichen zu sein. Nichts, das eigens bejaht, sondern eben erledigt und akzeptiert werden muss. Und damit ist das Okay-Sagen auch ein Ausdruck von „Handlungs- und Urteilsfähigkeit“, wie Anne und Uli selbst sagen: „Josefs Zustand wurde immer schlechter im Laufe der Zeit. Und die vermehrten Okays sind aber ein Indiz dafür, dass wir mit unseren Einschätzungen und der Kontrolle über die Situation trotzdem am Ball bleiben.“

Die Diagramme zeigen die schwankende Häufigkeit beider Muster über die 22 Monate hinweg – und geben über den Umweg des sprachlichen Ausdrucks in der Nacherzählung des Lebens mit Josef ein Bild davon, wie Ausnahmesituationen zu Alltag werden konnten und auch sprachliche Rituale hierbei helfen können.

Ein Gastbeitrag von Dr. Simon Meier-Vieracker, Professur für Angewandte Linguistik an der TU Dresden

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