Gute Bindung und professionelle Distanz. Einblicke in die außerklinische Kinderintensivpflege.

Sandra Falkson ist eine der wenigen deutschen Pflegewissenschaftlerinnen, die schon zu dem uns so wichtigen Thema außerklinische Kinderintensivpflege geforscht haben.
Wir haben vor einiger Zeit mit ihr telefoniert und sehr viele Ähnlichkeiten zwischen unseren persönlichen Erfahrungen und ihren professionellen Einschätzungen festgestellt. Es muss sich dringend etwas ändern: Noch immer ist dieses Arbeitsfeld kaum beachtet, in keinem Pflege-Lehrplan enthalten, das Thema kaum sichtbar. Die Auswirkungen dieses umfassenden Mangels machen einen Großteil unseres Blogs aus.
Wir bedanken uns herzlich dafür, dass Sandra Falkson ihre Sicht in einem Gastbeitrag für unsere Werkstatt zusammengefasst hat.

Die Zahl schwerkranker Kinder, die zu Hause von ihren Eltern mit professioneller Hilfe gepflegt werden, stieg in den letzten Jahren stetig an. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: kranke und pflegebedürftige Kinder werden schneller aus den Kliniken entlassen, Frühgeborene haben bessere Überlebenschancen, durch neue technische Möglichkeiten können auch schwerstkranke Kinder in der zu Hause gepflegt werden (Gessenich, 2009).

Die ambulante Kinderkrankenpflege gilt als eine spezialisierte Dienstleistung, deren Ziel es ist, Kinder mitsamt ihren Familien in kritischen Lebenssituationen in der häuslichen, vertrauten Umgebung zu begleiten und zu pflegen. Eine spezielle Patientengruppe sind Kinder, die eine außerklinische Intensivpflege benötigen. Durch die außerklinische Intensivpflege erhalten die Kinder die Möglichkeit, in ihrem vertrauten familiären Umfeld aufzuwachsen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Kinder, die in der Häuslichkeit gepflegt werden, weisen gegenüber Kindern, die in Institutionen leben, physische, psychische, emotionale, soziale und kognitive Entwicklungsvorteile auf.

Die Pflege in der häuslichen Umgebung fördert die eigene Identität der Kinder. Durch die Teilnahme an Aktivitäten, die implizit oder explizit familiale Werte und Überzeugungen vermitteln, können die Kinder soziale Kompetenzen erwerben, die ihnen im stationären Setting verborgen geblieben wären (Kirk, 1999). Trotz der benannten Vorteile, die die außerklinische Pflege für die Kinder mit sich bringt, darf die Lebensqualität der Familienmitglieder nicht aus den Augen verloren werden.

Josef bekommt Sondennahrung mit einer Spritze über seine Magensonde (PEG)
Josef bekommt Sondennahrung mit einer Spritze über seine Magensonde (PEG)

Ein Leben in der Öffentlichkeit

Eltern von Kindern mit einem intensiven Pflegebedarf sind auf Hilfe der Pflegedienste angewiesen und können nicht wie Eltern gesunder Kinder ihr Kind rund um die Uhr alleine versorgen. Ihr Leben findet in der Öffentlichkeit von Pflegepersonal und Therapeuten statt, was zu einem Verlust von Intimität und Privatsphäre in der eigenen Häuslichkeit führt. Die Pflegenden sind teilweise bis zu 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche in den Familien tätig. Durch die permanente Anwesenheit entwickelt sich zwangsläufig eine besondere Nähe und Bindung zu dem Kind und seiner Familie.

Die stetige Präsenz der Pflegenden steht jedoch im Widerspruch zu einem normalen Familienleben und verursacht sowohl Stress als auch Abweichungen von Familienroutinen (O'Brien & Wegner, 2002; Gessenich, 2009). Halten sich Pflegende über einen längeren Zeitraum in der Häuslichkeit einer Familie auf, ist das Risiko gegeben, dass Grenzen der Privatsphäre übertreten werden und die Familien sich im eigenen Zuhause nicht mehr wohl fühlen. Sich wohlfühlen, bedeutet den Alltag mit Familie und Freunden genießen zu können.

Zu Hause sein wird verbunden mit „alleine sein“ zu können, „sich so geben können wie man gerne möchte“ und „keine Rücksicht auf Fremde nehmen zu müssen“. Die stetige Präsenz der Pflegenden führt dazu, dass sich einige Eltern „manchmal fremd im eigenen Haus fühlen“.

Um das Problem der Fremdheit und die Störung der Privatsphäre zu mindern, ist der Aufbau einer von Sympathie, Verständnis und Vertrauen geprägten Beziehung zwischen Eltern und Pflegenden nötig. Die Anwesenheit in der Häuslichkeit setzt voraus, dass die Pflegenden sich empathisch und sensibel in das Familiengeschehen einfügen. Von daher ist es wichtig, Normen und Werte der Patienten und ihrer Familien zu akzeptieren. Der Verlust der Privatsphäre betrifft sowohl die Unterbrechungen von Familienroutinen als auch Veränderungen in der Familieninteraktion. Den meisten Eltern fällt es in der Anwesenheit der Pflegenden schwer ihre Gewohnheiten und Lebensweise beizubehalten. „Man ist nicht wie im Normalfall“. Die Familienmitglieder fühlen sich von den Pflegepersonen beobachtet. Die Sorge darüber, welchen Eindruck ihr Handeln auf die Pflegenden macht, kann dazu führen, dass Konflikte in der Familie nicht mehr ausgetragen werden.

Rollenkonflikte

Der Verlust der Privatsphäre bezieht sich zudem auf Probleme bei der Aufrechterhaltung der Rollen und kann zu Rollenkonflikten zwischen Eltern und Pflegepersonal führen. Ist ein Pflegedienst involviert, müssen Eltern Erziehungsfragen und Entscheidungen offen darlegen, um eine klare Linie vorzugeben. Die Bandbreite, die Eltern normalerweise haben, mit ihrem Kind situativ zu reagieren, entfällt. Nicht immer werden aufgestellte Regeln respektiert.

Es ist bedeutend,dass Pflegende ihre eigenen Interessen und Vorstellungen zurücknehmen können und das Leben der Familien respektieren, auch wenn es nicht ihren eigenen Idealen entspricht. Belehrungen über Erziehungsmethoden oder Lebensweisen verhindern den Vertrauensaufbau und führen dazu, dass sich die Eltern von den Pflegenden distanzieren. Das Leben der Familie zu respektieren, heißt auch Respekt vor dem Kind und seiner Lebenswelt zu haben.

Das Kinderzimmer ist keine stationäre Einrichtung

Außerklinisch Pflegende arbeiten nicht in einer Institution, sondern in der Lebenswelt der Familie. Hier gilt es die familiären und räumlichen Gegebenheiten zu respektieren. In dem Bestreben, die Pflege des Kindes auch außerhalb der Intensivstation aufrechtzuerhalten, wird manchmal außer Acht gelassen, dass es sich bei dem Kinderzimmer nicht um eine stationäre Einrichtung handelt, sondern um ein Zuhause, in dem nach anderen Regeln organisiert und gepflegt wird als auf einer Intensivstation.

Hilfreich ist es, wenn Familien ihre Räumlichkeiten in öffentliche und private Zonen einteilen, zu denen nur die Familienmitglieder Zutritt haben. Feste Hausregeln haben sich in vielen Familien als sinnvoll erwiesen. Ebenso profitieren die Familien von der Einführung sogenannter Familienzeiten, in denen die Pflegepersonen sich von der Familie in andere Räumlichkeiten zurückziehen, so dass die Familie allein sein kann und nur bei Bedarf auf die Hilfe der Pflegenden zurückgreift.

Wie sich die Situation in der Häuslichkeit für die Pflegenden darstellt und ob es ihnen glücken kann, eine tragfähige Beziehung zu der Familie aufzubauen, hängt im Wesentlichen davon ab, ob sie sich selbst auf diese spezielle Arbeitssituation einlassen können.

Die Tatsache, dass die Pflegenden für viele Stunden in den Familien und in deren manchmal sehr beengten Räumlichkeiten arbeiten müssen, zeigt deutlich, dass es hierfür eine grundlegende Haltung ihrerseits erfordert, um der Arbeit mit dem Kind und seinen Eltern und zu guter Letzt sich selbst gerecht zu werden.

Außerklinische Intensivpflege: im Lehrplan nicht vorhanden

Die außerklinische Intensivpflege findet sich derzeit noch nicht im praktischen Lehrplan der Pflegeschulen wieder, so dass die Pflegenden hinsichtlich ihrer Qualifikationen nur unzureichend auf die Versorgung Kinder mit intensivpflegerischem Bedarf im außerklinischen Setting vorbereitet werden. Die Persönlichkeit der einzelnen Pflegeperson entscheidet mit darüber, ob sie in der Lage ist, dieser besonders anspruchsvollen Tätigkeit in der häuslichen Kinderintensivpflege tagtäglich über viele Stunden standzuhalten.

Die langen Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden in den Familien sind eine große physische und psychische Herausforderung. Die Pflegenden müssen über diesen langen Zeitraum konzentriert und mit allen Sinnen bei der Arbeit sein. Zu langen Diensten gesellt sich die Problematik, dass die Pflegenden ohne kollegialen oder fachlichen Austausch vor Ort arbeiten. So müssen sie lebenswichtige Entscheidungen schnellst möglichst mit den Eltern oder ggf. allein treffen und damit auch die Konsequenz tragen.
Auf einen ärztlichen Hintergrunddienst, wie es ihn im Klinikalltag gibt, können sie nicht zurückgreifen.

Die große Verantwortung, die das alleinige auf sich gestellte Arbeiten mit sich bringt, wird von Pflegenden als belastend beschrieben, besonders dann, wenn es sich um Notfallsituationen handelt.

Rückzugsorte finden und einrichten

In der außerklinischen Pflege bestimmt die Wohnsituation maßgeblich die tägliche Pflegearbeit. In manchen Familien sind die Räumlichkeiten sehr beengt, sodass auf kleinstem Raum gearbeitet werden muss. Die räumlichen Aufteilungen, die von den Eltern teilweise vorgegeben werden, stehen für Grenzen der Nähe und Distanz und können unter Umständen die Pflegenden in der Bewegungsfreiheit mit dem Kind einschränken. Pflegenden fehlt zudem selber manchmal eine Rückzugsmöglichkeit von der Familie, sie sind permanent mittendrin und werden so zum Beispiel ungewollt zum Zeugen von familiären Konflikten.

Die Pflegenden wünschen sich eine gute Bindung an die Familie bei gleichzeitig professioneller Distanz. Allerdings stellt dieses eine weitere Herausforderung dar, weil es immer wieder ein Ausloten der Beziehungen braucht. Können sich Pflegende auf die häusliche Situation einlassen, kann eine vertrauensvolle Pflegebeziehung aufgebaut werden, von der alle Akteure profitieren.

Sandra Falkson ist Kinderkrankenschwester und Pflegewissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

Literatur
Gessenich, H. (2009): Die häusliche Kinderkrankenpflege in Deutschland. Eine quantitative Studie zu Situation der Dienstleistung Arbeitsfeld der häuslichen Kinderkrankenpflege (Qualifikationsarbeit). Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Fachbereich Gesundheitswesen, Köln.

Kirk, S. (1999): Caring for children with specialized health care needs in the community: the challenges for primary care. Health and Social Care in the Community 1999, 7(5): 350–357.

O’Brien, M.E. & Wegner, C.B. (2002): Rearing the Child Who Is Technology Dependent: Perceptions of Parents and Home Care Nurses. J Specialists Pediatric Nursing 2002, 7(1): 7–15.

Falkson, S. & Roling, M. (2015): Das Erleben der stetigen Pflegepräsenz in der außerklinischen Kinderintensivpflege aus der Perspektive von Eltern und Pflegenden. Unveröffentlichte Masterthesis. Universität Witten Herdecke, Department für Pflegewissenschaft.

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