Die Jetzt-Zeit. 22 Monate lang.

Silke ist Dramaturgin und liest „22 Monate“ seit langer Zeit. Wir haben uns im Herbst 2018 beim DOK Leipzig zum ersten Mal und inzwischen schon häufiger getroffen.
Wir haben Silke im Sommer 2019 gefragt, ob sie einen Beitrag für unsere Werkstatt schreiben möchte. Wir haben darum gebeten, dass sie ihren Impulsen folgt und schaut, ob es ein Thema gibt, das die Worte zu Papier fließen lässt.
Wie wunderbar: Sie hat nachgespürt und uns am 9. September 2019 diesen schönen Beitrag zum Thema Zeit geschenkt. Herzlichen Dank dafür.

Morgens kurz nach 7.00 Uhr lese ich von eurem Tag. Bei euch hat der Wecker bereits geklingelt, das kalte Wasser war im Gesicht, die Auskunft von Josefs Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung wurde gegeben. Damit beginnt der Blogeintrag, jeden Tag. Eine getaktete Zeit, jeden Tag, seit über 600 Tagen.

Ich lese, als sei das Beschriebene heute.

Ein rhythmisiertes Veröffentlichen, das vom Rhythmus eurer Tage mit Josef berichtet. Permanent ist die Zeit als Motiv in euren, in Annes, Beschreibungen vorhanden. Vielgestaltig ist das Wesen der Zeit: mal zäh und gedehnt, dann drängelt sie und rast doch immer wieder, die gemeinsame Zeit mit Josef. Sie wird weniger, von Tag zu Tag, an dem ich lese.

Die Beiträge katapultieren mich zurück. Ich lese, als sei das Beschriebene heute, jetzt, genau jetzt. Ich fiebere mit, ich fühle mit. Ich habe an euren Gefühlen der Verzweiflung, der Freude, der Wärme, der Wut teil, indem ich davon lese, jetzt gerade hier. Es trifft mich unmittelbar und direkt, während nebenan meine Kinder noch schlafen, morgens kurz vor 7 Uhr. Es nimmt mich mit in euer Leben, als erlebte ich zeitnah lesend mit, was euch und Josef gerade geschieht. Dabei weiß ich doch, dass der Tag, von dem ich lese, vier ganze Jahre zurückliegt. Er liegt hinter uns allen. Nur euer Zurückblicken ist möglich, eine Erinnerung an diesen Tag mit Josef.

Ich hole eure vergangene Jetzt-Zeit in meine Jetzt-Zeit hinein.

Anne beschreibt die Tage im Präsens, alles ist in der Gegenwart, alles ist Jetzt-Zeit. Die zeitliche Distanz muss ich mir selbst schaffen, mich daran erinnern: Das Erlebte liegt zurück, es ist vergangen, unwiederbringlich. Hier ist meine Jetzt-Zeit, in die ich eure vergangene Jetzt-Zeit hineinhole.

Was bedeutet der zeitliche Abstand, von dem so wenig in den Beiträgen zu lesen ist? Was ist in den vier Jahren passiert? Was war nicht nur heute vor vier Jahren, sondern wie habt ihr den Tag vor drei Jahren, vor zwei Jahren verbracht? Wie habt ihr jährlich an den 9. September 2015 zurückgedacht? Was macht der zeitliche Abstand? Welchen emotionalen Abstand bringt er? Wie verändert sich die Trauer mit der Zeit?

Die Jetzt-Zeit im Blog ist unberechenbar, obwohl streng getaktet, und allzu häufig fremdbestimmt von „vielen Menschen, Terminen, vielen Terminen, noch mehr Menschen“. Manchmal zieht sie sich, die Zeit, wenn die Müdigkeit groß wird. Sie verlangt Geduld, wenn die Krankenkasse nicht reagiert. So viel Wartezeit, die ihr nicht habt. Im SPZ kommt ihr bei jedem Besuch sofort dran, denn sie wissen dort: Ihr habt mit Josef nicht viel Zeit und diese Knappheit hat nichts mit Ungeduld zu tun. Und die Zeit ist relativ: „Bis in drei Wochen“, sagt der Sauerstoffmann unbelastet.

Pausen von der maßlosen Anstrengung.

Ist die Zeit selbstbestimmt, versucht ihr, die freie Zeit zu genießen, wie zuletzt an den Tagen am Wasser, ihr zusammen mit Klara – Josef im Hospiz. Ihr nennt es die Pausenzeit, die Pausen von der maßlosen Anstrengung.

„Die Zeit fühlt sich ganz anders an. Hier. Ich fühle mich damit überfordert, über die Zeit bestimmen zu können. Nicht fremdbestimmt zu sein. Hier liegt sie vor uns. Die Zeit. Sagt, mach was mit mir. Und nicht andersherum. Zu Hause schreit die Zeit: Beeile dich. Halte dich an den Plan. Jede Stunde ist mit Handlungen gefüllt.“ (23. August 2015)

Doch immer, wirklich immer, seid ihr bereit, eure Zeit unterbrechen zu lassen von einem Anruf. Immer der Blick auf das Telefon, in „Habachtstellung“, wie Anne es nennt.

Anne und Uli im Herbst 2018 (© 22MONATE)
Anne und Uli im Herbst 2018 (© 22MONATE)

Was bedeutete die permanente Aufmerksamkeit auf das Telefon, auf den möglichen Anruf aus dem Hospiz? Wie geht ihr heute mit dem Getaktet-sein, mit freier Zeit, mit Unpünktlichkeit um? Wieviel Zeit braucht das Gedenken und Erinnern, das Zurückfühlen und Ordnen von Gefühlen?

Dieses unentwegte Im-Hier-bleiben.

Nicht vorausdenken, nicht planen, nicht über Vergangenes grübeln, schreibt Anne. Immer im Hier bleiben. Für mich eine Essenz, die ich aus jeder Blog-Lektüre mitnehme, eine Aufgabe, die so unendlich schwierig scheint: dieses unentwegte Im-Hier-bleiben. Davon berichtet ihr im Blog: wie mühevoll dies ist und wie kostbar, wenn es gelingt.

„Vielleicht bleibt es ja noch eine kleine Weile so. Merke, wie ich handele. Innerlich. Immer mehr Zeit herausschlagen möchte. Noch ein paar Minuten mehr. Stunden. Tage. Wochen. Monate. Jahre. Mit wem handele ich eigentlich? Mit dem Schicksal? Einatmen und Ausatmen. Ich versuche, mich zurückzuholen. In den heutigen Tag. In den heutigen Morgen.“ (19.Juli 2015)

Kurze Zeit später, nach der Krise, kann und darf die Zeit wieder fließen: „Lasse die Forderungen los. Nach mehr Zeit. Weil ich sonst die Dankbarkeit nicht spüre. Meine Kräfte vergeude für das Fordern nach mehr Zeit mit Josef.“ (25. Juli 2015)

Ich denke voraus und muss mich zurückholen.

Beim Lesen wünsche ich euch so sehr mehr gemeinsame Zeit; wünsche mir fast, nicht zu wissen, wann der Blog enden wird. Der 3. Oktober steht auf der Homepage. Wir sind schon im 22. Monat angelangt. Auch ich denke voraus, überlege, was die nächste Zeit noch bringen mag und muss mich zurückholen ins Heute. Mehr als das, was vom heutigen Tag zu lesen ist, weiß ich nicht, kann ich nicht wissen, muss abwarten, wovon der nächste Blogeintrag erzählt.

Wie umgehen mit der Zeit, wenn sie knapp und dadurch kostbarer wird? Und wie umgehen mit der Ahnung, dass sie nicht genügen wird? Hat das Bedürfnis nach Aushandeln von mehr Zeit aufgehört? Wofür war die gemeinsame Zeit ausreichend?

So viele Entscheidungen habt ihr und wolltet ihr treffen, für die es galt, den richtigen Zeitpunkt zu finden, ihn nicht zu verpassen. Herauszufinden, wann es an der Zeit ist für den Umzug ins Hospiz, für den Anruf beim SAPV-Team oder bei den Großeltern. Ihr sucht nicht nach der Sicherheit, zu wissen, wann wofür die richtige Zeit ist.

Entscheidender scheint, was ihr vier in jeweiligen Momenten wünscht und braucht. Spazieren gehen, zum Beispiel, das Laufen, um die Gedanken in Bewegung zu bringen, zusammen mit Josef. Mutig ihn mitnehmen auf den Spaziergang. „Wann sonst, wenn nicht jetzt? Wann denn sonst?“ (26. Juli 2015)

Wann der Zeitpunkt sein wird, wann Josef stirbt, wusste keiner. Ihr habt die Ungewissheit ausgehalten und wurdet angesichts ihrer nicht verrückt. „Wir wissen es nicht. Wissen nicht. Wissen nicht, was wir dann fühlen, denken, spüren. Wissen es nicht. Wissen nicht. Können uns nicht vorbereiten. Nicht vorfühlen. Vorspüren. Vordenken. Können nur im Moment sein. Nur in diesem Moment. Einatmen und Ausatmen.“ (22. Juli 2015)

Ihr schenkt uns einen Rhythmus.

Es beeindruckt, welche Wege ihr findet, den Momenten der Ungewissheit, der größten Anspannung zu begegnen. „Einatmen und Ausatmen“: Die paar Sekunden, die das Einatmen-Ausatmen gibt, helfen, den Moment verstreichen zu lassen, die Zeit weiterziehen zu lassen.

Denn das ist Aushalten: ein gemeinsames Verharren. „Wir üben uns darin. Jede Stunde. Jeden Tag. Jede Woche. Monate. Jahre. Im Aushalten des Unveränderbaren. Das Aushalten. Josef. Wir üben das Aushalten. Bis wir wahre Meister sind. Im Aushalten.“ (4. August 2015)

Ihr nehmt euch die Zeit, uns von eurer Jetzt-Zeit vor vier Jahren zu berichten. Tag für Tag, immer um die gleiche Uhrzeit. Ihr schenkt uns einen Rhythmus. Wir verbringen Zeit mit eurer Jetzt-Zeit.

Nach jeder Lektüre bin ich ganz hier, im Jetzt. Euer Präsenz überlagert sich mit meiner Gegenwart, lässt mich dankbar werden für die Zeit, die wir in diesem merkwürdigen virtuellen Raum gemeinsam verbracht haben – ihr mit eurem Schreiben, ich mit meinem Lesen. Und lässt mich dankbar werden für die Zeit, die wir mit unseren Kindern heute hier im JETZT haben.

Silke Merzhäuser (Twitter: @merzhaeuser ) ist die Dramaturgin des freien Theaterkollektivs werkgruppe2.

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