22 Monate – im zweiten Sommer
Viera Pirker (@VieraPirker bei Twitter) forscht am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien zu medialen Repräsentationen besonderer Erzählungen, meist im religiösen Bereich. Sie begleitet unser Projekt schon lange als Leserin und hat es bereits im Sommer 2018 in der Online-Zeitschrift Feinschwarz vorgestellt. Wir freuen uns sehr darüber, dass sie ihre Erfahrungen mit „22 Monate“ in diesem Werkstattbeitrag erneut bündelt.
Fast seit Beginn des Projekts begleitet mich Josefs Geschichte beinahe täglich. Im vergangenen Sommer habe ich schon einmal dazu geschrieben, und ein Jahr später freue ich mich über die Einladung, für die Werkstatt einen zweiten Blick zu tun, und meine Erfahrungen und Gedanken mit dem Lesen und dem Leben erneut zu fokussieren, zu Josef, Anne und Uli, zu Klara. Natürlich!
Als Leserin war dieses Jahr für mich lang und kurz zugleich. Oft kam der Sauerstoffmann, die liebe Physiotherapeutin, später dann eine andere. Mehrere Anläufe der Wohnungssuche im Winter, dann tatsächlich ein Umzug, ganz nah ans Kinderhospiz.
Ich habe durch die Worte hindurch die Erleichterung der Eltern, auch die Stabilisierung im Alltag der Familie gespürt. Eine Gewöhnung hat im Laufe des Jahres bei mir eingesetzt, an die wiederkehrenden Krisen, die Josef durchleidet.
Lesen Menschen den Blog mit, die für diese Institutionen Entscheidungen treffen?
Zorn packt mich im Frühjahr angesichts des großen Drucks, den der Umgang verschiedener Ämter mit der Familie erzeugt – Pflegegeld, Krankenkasse, Arbeitsamt: immer wieder sind neue Fallbeschreibungen erforderlich, immer wieder erhalten die Eltern Absagen.
Ein Alltag, der ohnehin so schwierig ist, und Hilfe benötigt, trifft hier auf ein eigentlich solidarisch angelegtes System, das sich stur und undurchlässig, auch wenig menschlich zeigt.
Lesen Menschen den Blog mit, die für diese Institutionen Entscheidungen treffen, Familienbegleitungen organisieren? Das wäre so nötig. Das Pflegesystem ist am Rand, die Unterstützung und Begleitung der Familie auf Kante genäht.
Die Individualität der Pflegenden und ihrer moralischen und medizinischen Haltung wird immer wieder deutlich, die zu manchen Zerreißproben mit der Familie und deren autonomen Entscheidungen führt. Manches lässt sich nicht dialogisch klären.
Kann man sich an einen Ausnahmezustand gewöhnen?
Im Juni habe ich Angst bekommen: als es immer mehr ums Sterben geht, auch ausdrücklich. Die SAPV-Ärztin bringt es auf den Tisch: Josef beginnt – man weiß nicht wie – einen neuen Weg, im Juni hat sich sein Zustand verändert.
Mich hat dies tatsächlich überrascht. Was war so anders an dieser Krise? Denn die Krisen kommen und gehen, als Leserin habe ich mich an einen Ausnahmezustand gewöhnt, dachte, dass ich mit der Familie gemeinsam routinierter geworden bin.
Die Pflegesituation hatte sich stabilisiert, die Nähe zum Kinderhospiz wirkte auch für mich beruhigend. Obwohl ich um die „22 Monate“ weiß, die Josef atmet, rechne ich doch gar nicht damit, und lebe mit von Tag zu Tag.
Dachte ich, dass er einfach irgendwann nicht mehr aufwachen wird, so wie er ganz am Anfang seines Weges spontan und überraschend entschieden hatte, zu leben? Das Sterben gestaltet sich als ein längerer Prozess. Die Ärztin schärft es immer wieder ein, bereitet die Eltern darauf vor. Immer wieder erinnert sie daran, im Begleiten dieser neuen Realität.
Was tun mit dem, was geblieben ist?
„22 Monate“ ist gewachsen: Viel mehr Follower_innen in den sozialen Netzwerken, bei Twitter und Facebook. Monatsüberblicke machen es den neu hinzukommenden Leser_innen leichter, sich zurechtzufinden. Inzwischen gibt es einen Instagram-Account, der die Bilder zu den Blogbeiträgen in den Vordergrund rückt.
Uli gestaltet diese Bilder aus den minutiösen Unterlagen der medizinischen Dokumentierung – Indem er mit ihnen umgeht und sie neu gestaltet, führt er sie auch einer neuen Verwendung zu. Verschiedene Phasen bekommen eine visuelle Dynamik. Auch dies zeigt einen Aspekt des Lebens mit dem Erfahrenen, mit dem Verlorenen: Was tun mit dem, was geblieben ist?
Anne schreibt über den Prozess des Schreibens, auch Klara meldet sich zu Wort und antwortet auf Fragen bei Twitter, auf der Webseite entsteht eine „Werkstatt“ mit Texten zum Projekt.
Einatmen, Ausatmen. Wunderschön. Du musst nichts.
Meine Achtung vor der täglichen Präsenz und dem minutiösen Dokumentieren im Blog ist kontinuierlich gestiegen. Ich frage mich, was es für Anne und Uli bedeutet, dass sie sich immer wieder ihrer Erinnerung und Erfahrung aussetzen, aber auch, immer wieder Diskussionen darüber online zu führen. Sie wollen Öffentlichkeit für den Alltag pflegender Familien schaffen. In der Form, die sie gewählt haben, müssen sie Details erinnern, die ihnen sicher auch schmerzhaft sind. Durcharbeiten, Reflektieren, Weiterleben: Auch dies zeigt der Blog.
Der Blog ist in der ganzen Zeit keineswegs „routinierter“ geworden. Oder doch? Viele Formulierungen kehren wieder, identisch oder in minimaler Abwandlung.
Ich nehme sie als ritualisiertes Sprechen wahr – Rituale wirken als vielschichtige Strategie, eine Realität zu bewältigen und ihre Deutung vorzunehmen. Einatmen, Ausatmen. Wunderschön. Du musst nichts. In diesen Worten lebt eine Haltung.
Viele Tränen fließen im Text – fast täglich, meist still, im Schlaf, beim Aufwachen, zwischendurch. Nur selten, fast nie werden Emotionen laut ausgedrückt - Klage, Zweifel, Trauer, Wut. Waren sie nicht da, durften sie nicht ausbrechen?
Laute Emotionen finden eher zwischen den Zeilen in den Blog hinein, beispielsweise, als die kleine Katze einzieht, die schneller kann und mehr kann, die sich ihrem Bewegungsdrang hingibt, und einfach lebt. Was ist Leben? Was macht das Leben aus? Und was bedeutet Sterben, darf ein Kind sterben?
Ein ethisches Lehrstück, das mir auch unbequem wird
Uli und Anne müssen im Gesamtsystem funktionieren, halten und aushalten, Entscheidungen klären und dran festhalten, Stabilität erzeugen, wo die Welt brüchig ist und das Leben im Grenzbereich stattfindet.
Anne schreibt: „Etwas wandelt sich in mir. Wandelt sich hin zu Josef. Weg von der Zukunftshoffnung. Und doch ist es schwer. Auszuhalten. Es kommt mir fast unmöglich vor. Und doch halten wir aus. Schon so lange. Es ist unsere Aufgabe. Als Eltern. Aushalten.“ (11. August 2015)
Wie geht die Erzählung einer so langen und doch auch kurzen Geschichte des Atems? Birgt das Schreiben für die Eltern Linderung, birgt es vielleicht auch Rechtfertigung? Fragen tauchen in mir auf, die sich zugleich übergriffig anfühlen.
Ich verstehe „22 Monate“ als ein ethisches Lehrstück, das mir auch unbequem wird. Denn der Blog wirft mich immer wieder, mehr und mehr auf die ‚Normalität‘ meiner medialen Lese- und Rezeptionsgewohnheiten zurück: Ich entdecke, dass ich mit Spannung, mit Höhepunkten und Veränderungen rechne, und regelrecht darauf hungere, dass etwas passiert – ein Bedürfnis, das hier nicht befriedigt wird, in dieser langsamen Erzählung mit ungewiss-gewissem Ausgang.
Was bedeutet es, betroffen zu sein?
Denn wenn in diesem Blog Spannung entsteht, geht es um Leben und Tod – und das will ich kaum aushalten, will zurück in den vermeintlich gesicherten Alltag. Die Erzählung von „22 Monate“ kann nicht als „gute Story, klarer Plot, Drama und Lösung“ funktionieren und strukturiert werden – vielmehr repräsentiert sie die Normalität und die Grenzen und Realitäten eines ganz besonderen Alltags.
„Uli, sind wir außerhalb? Außerhalb der Gesellschaft? Der Norm? Der Werte? Das sind wir die ganze Zeit schon, Anne. Das sind wir die ganze Zeit schon.“ (10. Juli 2015)
In meinem Fachgebiet, der Praktischen Theologie, lässt „22 Monate“ Betroffenheit und Stellvertretung lernen – thematische Dauerbrenner der Positionierung im Bereich Seelsorge, in den Feldern von Caritas und Diakonie, Hospizbewegung, Ehrenamt.
Was bedeutet es, betroffen zu sein? Welche Begleitungen, Hilfestellungen können angeboten werden? Können Menschen, die nicht unmittelbar betroffen sind, überhaupt nachvollziehen, was eine Situation in der Innenperspektive charakterisiert?
Selbst Pflegekräfte und Ärzte kennen die familiäre Innensicht kaum, gehen professionell und doch eingeschränkt darauf zu, benötigen ein hoch ausgebildetes empathisches Vermögen, sich die Situation der Familie zu eigen zu machen.
Lieben, durch die Schallmauer hindurch
Uli und Anne machen mit ihrem Blog ihre eigene Erfahrung sichtbar – für sich selbst, aber auch, um eine gesellschaftliche Sensibilität für die Realität pflegender Familien mit schwerstkranken Kindern zu fördern. Sie teilen ihre Perspektive auf verschiedenen Ebenen, denken über den Blog hinaus, und bieten inzwischen auch Gespräche und Fortbildungen an.
Hoffnung wider alle Hoffnung, Menschsein in aller Einzigartigkeit, Leben, auch weil es Grenzen birgt, Lieben, durch die Schallmauer hindurch, Menschlichkeit als Annahme: Solche schwierigen und besonderen Erfahrungen zeigt „22 Monate“ im Alltag – und weit darüber hinaus.
Ein Gastbeitrag von Dr. Viera Pirker, Institut für Praktische Theologie, Universität Wien
Ihr erster Artikel über „22 Monate - ein ganzes Leben“ erschien im Juli 2018 auf Feinschwarz.net