, Zu Hause 1

Um 5.30 Uhr klingelt der Wecker. Ich pumpe Milch ab. Stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Gehe ins Wohnzimmer. Josef ist wach. Liegt entspannt im Arm der Schwester. Sie gibt Josef Tee über seinen Nasenschlauch. Ich gehe zu ihnen. Streichele Josef über seinen Kopf. Guten Morgen, mein Bär. Frage nach der Nacht. Die Nacht war ruhig, sagt sie.

Beim Aufwachen hat Josef vorhin mit den Armen gezuckt. Vielleicht war das ein Krampf. Mh, sage ich. Schreib es bitte auf. Ins Krampfprotokoll. Habe ich schon, sagt sie. Gut, sage ich.

Ich gehe in die Küche. Stelle die leeren Milchflaschen in den Geschirrspüler. Die vollen in den Kühlschrank. Setze Wasser auf. Für Tee und Kaffee. In meinem Kopf kreist es. Einatmen und Ausatmen. Kann sie nicht fassen. Diese Gedanken und Gefühle. Krampf. Was nun? Was nun?

Uli kommt in die Küche. Sieht mich. Ganz angestrengt bin ich. In der Hoffnung, eine Antwort für mich zu finden. In der ganzen Anstrengung. Ich erzähle kurz. Sage, frag die Schwester bitte selber. Ich höre sie sprechen. Die Schwester fängt an, Josef zu inhalieren. Uli kommt zu mir. Sagt, Josef hat nur kurz gezuckt. Fahr bitte zum Seminar. Es wird dir gut tun. Das Leben da draußen wird dir gut tun. Wir machen das zu Hause. Heute Nachmittag wird auch eine Schwester da sein. Wir sind nicht allein.

Wir umarmen uns. Dann packe ich die Milchpumpe ein. Flaschen. Tee. In einer Thermoskanne. Tee muss immer heiß sein. Seminarunterlagen. Einen Apfel. Ich gehe zu Josef. Nehme ihn der Schwester kurz ab. Küsse ihn. Halte ihn ganz dicht an meinem Körper. Spüre seine Atmung. Höre sein Rauschen. Sein Josefmeeresrauschen. Mit dir ist man immer am Meer, denke ich. Muss dann schmunzeln über diesen Gedanken.

Dann beeile ich mich. Muss schnell fahren. Damit ich den Zug schaffe. Im Zug treffe ich Kollegen. Ich versuche mich, auf sie zu konzentrieren. Es gelingt mir kaum. Es gelingt mir auch nicht, mich auf mich zu konzentrieren. Ich habe das Gefühl, nicht richtig beisammen zu sein. Ich hoffe, es wird nicht bemerkt.

Das Seminar. Pädiatrische neurologische Grundkenntnisse. Ich höre zu. Versuche das Thema nicht zu dicht an mich rankommen zu lassen. Tapfer sein. Pause. Milchabpumpen. In mich gekehrt sein. Doch viel zu dicht das Thema. Das alles kann Josef nicht. Was der Dozent erzählt im Seminar.

Das ganze Gehirn. Überall sind Schädigungen. Bei Josef. Überall sind diese Flecken in seinem Gehirn. Wurde mir gezeigt auf dem MRT. Mit dem Leben nicht vereinbar. Wurde mir gesagt. Nun sagt der Seminarleiter, ohne Stammhirnfunktionen kann man nicht leben. Sagt mir noch einmal jemand: Ohne Stammhirnfunktion kann man nicht leben. Nicht lange leben. Ich weine innerlich. Weine in mich hinein.

Dann. Pause. Ich gehe zum Seminarleiter. Sage, ich kann das jetzt nicht. Sonst fließt alles aus mir heraus. Ergießt sich alles hier und jetzt. Das will ich nicht. Ich gehe. Wie durch Watte gehe ich durch die Straßen zum Bahnhof. Die Tränen fließen. Sonst platze ich. Und ich ergieße mich. Das will ich nicht. Wer will das schon?

Zu Hause. Einatmen und Ausatmen. Uli wundert sich. Du schon hier? Ja, sage ich. Ja. Die Schwester ist da. Sie schwitzt. So warm, sagt sie. Hat Josef im Arm. Josef ist relativ entspannt. Ich nehme ihn. Halte ihn ganz dicht an mich. Spüre seinen Atem. Einatmen und Ausatmen. Küsse ihn. So viele Küsse, mein Josef. Was weiß die Welt schon vom Leben, mein Josef?

Klara kommt. Umarmt mich von hinten. Dann gebe ich Josef der Schwester. Sie inhaliert ihn. Uli saugt Josef ab. Lass uns eine kleine Runde gehen. Eine Feldrunde. Zum Reden. Uli, Klara und ich gehen los. Lassen die Schwester mit Josef allein. Für eine halbe Stunde, sagen wir. Sind gleich wieder da. Klara nimmt ihr Rad mit.

Uli und ich reden. Lange nicht mehr geredet. Nicht sortiert. Ich spreche über meine Sorge um die Schwester. Sorge um Josef. Die Krämpfe. Kommen sie wieder? Spreche über mein Unbehagen. Mit der anderen Schwester. Die mir nicht vertraut. Nur den Ärzten. Ich mich nicht ernst genommen fühle. Dann die Hoffnung. Vielleicht müssen wir noch mal sprechen. Offen in der Teamsitzung.

Zu Hause. Die Schwester sitzt mit Josef. Schuckelt ihn. Ich sage, bitte. Nicht schuckeln. Plötzlich atmet Josef schwer. Bekommt kaum Luft. Uli saugt Josef tief ab. Es kommt viel Sekret raus. Ich bereite die Inhalation mit Salbutamol vor. Inhaliere Josef. Es wird besser. Josef atmet besser.

Die Schwester sitzt da. Ganz betroffen sieht sie aus. Was war, frage ich? Sie sagt, ich habe auf der Terrasse mit Josef gesessen. Ein wenig Vibrationsmassage gemacht. Das kannte ich von dem anderen Jungen. Ich spüre meine Wut. Sage, ich möchte, dass du keine Vibrationsmassage mit Josef machst. Das habe ich jetzt auch verstanden, sagt sie. Ich wollte Josef doch nur was Gutes tun, sagt die Schwester. Mh, sage ich. Ein verständnisvolles „Ich weiß“ kommt mir heute nicht über die Lippen. Wir verabschieden sie.

Ich halte Josef. Küsse ihn. Seine Atmung ist wieder besser. Seine Temperatur 37,8. Herzfrequenz 153. Sauerstoffsättigung 95. Wir essen Brot. Ich gebe Josef langsam seine Milch. Über seinen Nasenschlauch. Ganz langsam. Weine ein wenig. Nur ein wenig. Möchte Klara mit meinen Tränen keine Angst machen. Zusammen schauen wir Kinderfernsehen. Lesen Klara vor. Machen ihr das Hörspiel an. Josef liegt auf mir. Entspannt sich. Wir atmen. Einatmen und Ausatmen. Atmen, mein Josef, atmen.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die gewissenhafte Schwester. Wir berichten. Ich lege Josef in sein Bett. Herzfrequenz 143. Sauerstoffsättigung 93. Wir gehen ins Bett. Schlafen unruhig.

Um 3.00 Uhr pumpe ich Milch ab. Gehe ins Wohnzimmer. Josef schläft. Herzfrequenz 118. Sauerstoffsättigung 97. Alles gut? Ja. Alles gut. Ich gehe in die Küche. Stelle die Milch in den Kühlschrank. Gehe wieder ins Bett. Schlafe ruhiger.

Zuletzt aktualisiert am: 29.04.2020


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