, Zu Hause 2

Der Wecker klingelt. Um 6.00 Uhr. Ich bleibe liegen. Seminar heute. Fahre ich? Uli ist wach. Sagt, Anne. Du musst aufstehen. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Kaltes Wasser. Einatmen und Ausatmen.

Heute kommt keine Tagdienstschwester. Uli. Allein mit den Kindern. Ich gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Tee. Kaffee. Gehe auf den Balkon. Sehe den Schulhoffuchs. Guten Morgen, Fuchs. Es ist mild. Ein milder Junimorgen. Die Vögel zwitschern.

Ich gehe in Josefs Zimmer. Er schläft. Herzfrequenz 110. Sauerstoffsättigung 96. Die Schwester sitzt auf dem Sofa. Ich frage nach der Nacht. Josef hatte eine ruhige Nacht. Er war ganz entspannt. Schlief durch. Kein Fieber. Keine sichtbaren Krämpfe. Gut, sage ich. Gut.

Uli kommt. Sagt, Anne. Du musst los. Brauchst du mich, frage ich. Nein, sagt Uli. Wir schaffen es. Ich rufe an, wenn. Okay, sage ich. Das schlechte Gewissen schleicht sich an. Ich packe meine Unterlagen zusammen. Tee. Einen Apfel. Küsse Uli. Küsse Josef. Küsse Klara. Eile zum Bus. Bahn.

Sitze in der Bahn. Fühle mich wie ein Dieb. Stehle mir Zeit. Ich stehle mich aus dem Pflegealltag. Aus der unmittelbaren Verantwortung. Bin nur für mich. In der Bahn. Lege die Beine auf den Sitz. Für all die anderen Menschen ist es selbstverständlich. Nichts besonders. Vielleicht sogar eine Belastung. Am Samstag zu einem Seminar zu fahren.

Für mich ist es besonders. Kostbar. Wie sich die Werte verändern? Die Bewertungen? Sich alles verschiebt. Ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich es mir gönne, ein Seminar zu besuchen.

Im anderen Leben wäre es umgekehrt. Ganz umgekehrt. Ich wäre diejenige, die bemitleidet werden würde. Die Arme muss zum Seminar. Am Wochenende. Einatmen und Ausatmen.

Und nun habe ich ein schlechtes Gewissen. Es sitzt auf meinem Schoß. Wird schwerer und schwerer. Weil ich Uli allein lasse. Mit den Kindern. Ich bin da. Im Seminar. Ein Platz wurde frei gehalten. Ich rufe Uli an.

Alles gut, sagt Uli. Gut, sage ich. Gut. Die Zeit schleicht. Das Thema. Umschriebene Entwicklungsstörungen. Mir fällt es schwer, mich einzulassen. Pause. Ich rufe an. Uli sagt. Alles gut. Gut, sage ich. Gut. Der Nachmittag. Zieht sich. Dann entscheide ich. Ich gehe früher. Aus dem Bauch heraus. Entscheide.

Ich eile durch die volle Stadt. Durch die Stadt mit den vielen Menschen. Mit den Eistüten. Fahre mit dem Zug. U-Bahn. Straßenbahn. Rufe Uli an. Er sagt, sie sind im Kinderhospiz. Im Garten.

Ich bin da. Freue mich. Nehme Josef in den Arm, küsse ihn. Klara spielt mit den Geschwisterkindern. Sie bewerfen sich mit Wasserbomben. Gäste sind im Garten. Schwestern. Pfleger. Eltern. Wir sitzen zusammen. Erzählen. Lachen. Es ist schön. Genau richtig.

Wie wandelbar es ist. Heute Morgen habe ich ein wenig Freiheit gespürt. Mit dem schlechten Gewissen. Und nun. Bin ich wieder in meinem Leben. Bin glücklich. Es fühlt sich leicht an. Fühle mich nicht gefangen. Gerade. Hier in diesem Garten. Mit den Kindern. An den Maschinen. Die piepen und rauschen. Mit den Schwestern und Pflegern. Den Eltern. Den Geschwisterkindern.

Jetzt gerade fühlt es sich leicht an. Leicht und richtig. Am Abend wird gegrillt. Uli geht los. Holt Würstchen. Für Josef den Abendbrei. Wir sitzen zusammen. Essen. Lachen.

Dann gehen wir nach Hause. Mit unseren Kindern. Schauen Kinderfernsehen. Josef liegt auf meiner Brust. Auf meinem Herzen. Wir atmen zusammen. Einatmen und Ausatmen.

Uli bringt Klara in unser Bett. Liest ihr vor. Macht das Hörspiel an. Ich lege Josef in sein Bett. Herzfrequenz 110. Sauerstoffsättigung 96.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Wir erzählen. Vom Tag. Lachen. Heute habe ich aus vollem Herzen gelacht, denke ich. Musste mich nicht zwingen. Wir gehen ins Bett. Schlafen.

Zuletzt aktualisiert am: 29.05.2021


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