Ich weine vor Rührung. Flute über vor Gefühl. Auch die lasse ich. Die Gefühle. Lasse sie.

Es ist 6.10 Uhr. Jette ist wach. Sie wirft sich auf mich. Guten Morgen, Mama. Aufstehen. Heute ist ein schöner Tag, sagt sie. Ich drücke sie an mich. Küsse sie. Rieche an ihren Haaren. Sie duftet nach Schlaf. Den Moment halte ich fest. Innerlich. Speichere ihn. In mir.

Jette steht auf. Komm Mama, komm. Ich setze mich auf die Bettkante. Müde bin ich. Müde. Die Nacht war so unruhig. Es gab Vollmond. Der Mond so voll. Ich stehe auf. Gehe mit Jette in die Küche. Setze Wasser auf. Für Tee. Kaffee. Ich nehme Jette auf den Arm. Küsse sie. Sie duftet so herrlich.

Wir gehen auf den Balkon. Begrüßen den Tag. Der Frühling. Ganz erdig und laut. Die Vögel rufen und zwitschern. Wir gehen wieder in die Küche. Ich setze mich mit Jette auf den Sessel. Wir lesen ein Buch. Wie jeden Morgen. Ein Morgenbuch.

Uli stellt mir den Kaffee in Reichweite. Wir sind still und leise miteinander. Uli zieht sich in das Josefarbeitszimmer zurück. Viel zu tun, sagt er. Viel zu tun. Klara kommt. Ganz verschlafen ist sie. Wir frühstücken. Cornflakes, Toast, Milch.

Dann ziehen wir uns an. Jette und ich. Spazieren wollen wir gehen. Eine Gartenrunde. Klara hat keine Lust. Möchte lieber mit ihrer Freundin telefonieren. Gut, sage ich. Gut. Osterferien. Urlaub. Ich habe Urlaub.

Wir sind hier. Sind. Hier. Fahren nicht weg. In den Osterurlaub. Wir lassen die Tage. Lassen sie. Verlangen nicht viel von ihnen. Packen sie nicht voll. Nicht an. Stopfen nichts rein. In die Tage. Lassen sie in Ruhe. Ziehen und zerren nicht an ihnen. Lassen sie. So wie wir uns lassen. Seit einigen Tagen lassen wir uns. Auch uns lassen wir. Zerren nicht an uns. Verlangen nicht viel. Nur. Einatmen und Ausatmen.

Jette auf dem Laufrad. Mit ihrem roten Helm. Ich. Hinter. Her. Lasse mich treiben von Jette und ihrem Laufrad. Habe kein Ziel. Weder örtlich noch zeitlich. Durch die Gartenanlage möchte Jette. Hält immer wieder an. Immer. Wieder. Pflückt Butterblumen. Für Mama, sagt sie. Gibt sie mir. Ich weine vor Rührung. Flute über vor Gefühl. Auch die lasse ich. Die Gefühle. Lasse sie. Die Gefühle. Zerre nicht an ihnen. Verlange nichts.

Dann. Sehe ich auf dem Weg einen Rollstuhl. Ich sehe eine Frau vor dem Rollstuhl stehen, so dass ich nur Beine sehe. Die Beine des Menschen im Rollstuhl. Es sind junge Beine.

In meinem Kopf Gedanken und Bilder. In meinem Bauch warme und fließende Gefühle. Ich denke an einen jungen Mann. Aus dem Kinderhospiz. Wie schön ihm zu begegnen. Kenne ihn schon lange. Mag ihn sehr. Wie er lacht und nach oben schaut, wenn er sich freut.

Einen feinen Humor hat er. Liebt das Hörspiel von Ottokar, dem Weltverbesserer. Ist zu Scherzen aufgelegt. Es spielt für mich keine Rolle, dass er nicht spricht, nicht laufen kann, nicht schlucken und manchmal beatmet wird. Spielt keine Rolle. Ich freue mich.

Und dann. Durchströmt es mich. Die Traurigkeit. Der Schmerz. Das Wissen. Er ist tot. Lebt nicht mehr. Ist genau ein halbes Jahr nach Josef gestorben. Genau ein halbes Jahr.

Vor vier Jahren. Vor vier Jahren. Seine Trauerfeier. Wir waren da. Im Kinderhospiz. Im Wintergarten. Viele Menschen waren da. Viele Menschen. Viele Geschichten mit ihm wurden erzählt. Summen in meinem Ohr. Ein Lied mit ihm und dem Musiktherapeuten wurde vorgespielt. Seine Stimme. Seine schnalzende Stimme.

Wie schmerzhaft tröstend, sie zu hören. Summen in den Ohren. Von seinen Geschichten und seiner Stimme in meinen Ohren. Tränen. Viele Tränen. Laute und leise Tränen. Schmetterlinge auf seiner Urne. Schmetterlinge. Mein Atem. Hält an.

Einatmen und Ausatmen, Anne. Einatmen und Ausatmen. Jette fährt mit ihrem Laufrad vorbei. Mit ihrem Laufrad und ihrem roten Helm.

Ich lächele den jungen Mann im Rollstuhl an. Er schaut mich nicht an. Sein Blick ist nach oben gerichtet. In den Himmel. Einatmen und Ausatmen. Ich will sie nicht lassen, die Tränen. Nicht hier und jetzt. Weiter, meine Jette. Weiter. Durch die Gartenanlage zurück.

Wir sind da. Irgendwann sind wir zu Hause. Essen eine Nudelsuppe. Schlafen. Mittagsschlaf. Lassen den Schlaf über uns kommen. Der Nachmittag. Hell und sonnig. Ein Sommerfrühlingstag. Fußballspiel. Wir lassen den Ball in alle Richtungen rollen. Lassen.

Am Abend. Draußen. Draußen auf dem Balkon. Die Wärme und das Licht einsaugen. Speichern. Tränen laufen mir über das Gesicht. Warme Tränen. Ich lasse auch sie. Wische sie nicht weg. Halte die Traurigkeit, das Glück und den Schmerz in mir. Halte das alles in mir und lasse es dort.

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