Kaum vorzustellen, woran wir uns gewöhnt hatten. Wieviel kann ein Mensch aushalten? Wieviel?

Es ist 8.00 Uhr. Langsam werde ich wach. Es ist grau. Ein grauer Tag. Wenigstens ist es schon hell, denke ich. Ganz schwer fühle ich mich. Ganz schwer. Ich schließe wieder meine Augen. Wie schön warm es ist. Im Bett.

Es raschelt. Jette. Mama, darf ich kuscheln kommen? Ja, sage ich, ja. Jette kuschelt sich an mich. Ganz dicht. Ich küsse sie. Spüre ihren warmen kleinen Körper. Ganz lebendig ist sie. Ganz lebendig. Uli wird wach. Guten Morgen, sage ich. Guten Morgen. Aufstehen, sagt Jette. Papa, wollen wir aufstehen? Du bleibst noch liegen, Mama, sagt sie.

Ich bleibe liegen. Noch einen kleinen Moment. Wiedersetze mich Jettes Wunsch nicht. Komme gleich nach, sage ich. Komme gleich. Noch einen kleinen Moment nachspüren. Das letzte Jahr nachspüren. Einen kleinen Moment. Dann komme ich. Ja, sagt Jette. Ja, sagt Uli. Sie stehen auf. Ich höre Jettes Füße trappeln. Ulis festen Schritte. Dann schließt sich die Tür.

Ich bin bei mir. Mit mir. Versunken. Zwischen. Irgendwo dazwischen.

Die letzten Monate. So viel Kraft gekostet. Die Gefühle von: Aufpassen, Achtsam sein, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Ganz latent waren sie da. Die Gefühle aus der Zeit mit Josef. Da waren sie stärker. Viel stärker. Besonders das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Nie zu wissen, wie der Tag wird. Nicht planen zu können. Noch nicht mal die nächsten Stunden. Noch nicht mal die.

Und die Hoffnung. Immer wieder die Hoffnung, wenn es gut lief. Gut lief. Was hieß das schon? Wenn er kein Fieber hatte. Wenn er keinen Krampf hatte. Keine Atemnot. Wie viele Tage waren es? Wenige. Sehr wenige.

Gab es diese Tage überhaupt? An denen nichts war? Wir hatten uns angepasst. Schnell angepasst. An bedrohliche Situationen. Kaum vorzustellen, woran wir uns gewöhnt hatten. Wieviel kann ein Mensch aushalten? Wieviel?

Und im letzten Jahr. Da war es wieder da. Ganz latent. Leise. Das Gefühl, sich anzupassen. Nur nicht so bedrohlich. So bedrohlich fühlte es sich nicht an. Fühlt es sich nicht an. Fühlt es sich nicht an. Und doch. Eine innere Anspannung. Die ist da. Kostet Kraft.

Das letzte Jahr. Meine Freundin. Sie starb. Hat mich mitgenommen. Hab mich mitnehmen lassen. Verbindung. Worte. Worte, die sich veränderten. Die nicht mehr soviel Kraft hatten. Unsere Verbindung. Die wenigen Zeilen täglich.

Manchmal haben wir uns gesehen. Nach der Bestrahlung im Krankenhaus. Manchmal zu einem Spaziergang. In einem Kaffee. Dann wurde es weniger. Zu gefährlich. Wollte sie nicht in Gefahr bringen. Täglich unsere Zeilen. Eine Brücke zwischen uns. Ein Halt für mich. Für sie. Vielleicht auch für sie.

Hoffen. Immer wieder hoffen. Bleib noch ein wenig. Ich halte doch aus, liebe Freundin. Halte dich aus. In allen Zuständen. Aushalten, liebe Freundin, das kann ich. Bin geübt. Im Aushalten geübt. Erschrecke nicht, wenn du nicht mehr sprechen kannst. Bin doch da. Möchte, dass du noch ein wenig bleibst. Hoffe.

Dann starb sie. Starb. Plötzlich. Plötzlich. Nicht plötzlich. Sie starb. Ihr Leben war gelebt. Sie ist nicht mehr da. Jetzt nicht mehr da. Ihre Worte lese ich. Immer wieder. Worte des letzten Jahres. Schaue mir Bilder an. Von gebackenen Kuchen, die wir uns geschickt haben. Bilder von Blumen. Von uns. Den Kindern. Der Familie.

Einatmen und Ausatmen. Ich spüre. Spüre Dankbarkeit. Dankbarkeit für so viel Nähe. Demut. Demut vor dem Leben. Auch jetzt. Ich stehe auf. Gehe in die Wohnküche. Jette malt. Sagt, geh wieder ins Bett.

Ich küsse sie. Hole mir einen Kaffee. Gehe ins Schlafzimmer. Ziehe die Gardinen auf. Öffne das Fenster. Es nieselt. Einatmen und Ausatmen. Es duftet. Duftet nach Erde. Nach Regen. Wie wunderschön. Mir laufen Tränen. Tränen der Dankbarkeit. Leise Tränen. Frohes neues Jahr.

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