"Nähe und Distanz in der Pflege von sehr kranken kleinen Kindern." Wie wir es sehen.

Willkommen zum ersten Beitrag der 22MONATE-Werkstatt!

Am 8.5.2019 haben wir in Leipzig vor 50 Pflegefachkräften zum Thema "Nähe und Distanz in der Kinderkrankenpflege" aus unserer Sicht als Geschäftsführer_in der 22MONATE gGmbH gesprochen.

Ein sehr schwieriges, kompliziertes Thema, dass in der Ausbildung kaum beachtet wird, aber in der alltäglichen Pflege eine so wichtige Rolle spielt. Wir haben unsere Erfahrungen zu Hause und im Kinderhospiz geschildert, zum Perspektivwechsel eingeladen und uns über die sehr positiven und bewegten Rückmeldungen sehr gefreut.

Für uns eine Bestätigung, dass wir uns mit der 22MONATE gGmbH auf einem richtigen Weg befinden. Gern kommen wir auch zu Ihnen und stellen unsere Sicht vor: post(at)22monate.de

In den Betrachtungen, die wir heute veröffentlichen, schauen wir uns besonders unsere Situation in Josefs ersten 5 Lebensmonaten an:

Zu Hause

Nach der Geburt unseres Sohnes, der Diagnosestellung und der Entlassung aus der Klinik befanden wir uns in einer Anpassungsphase. Wir mobilisierten Kräfte, um alles auf das Ankommen zu Hause mit Josef vorzubereiten. Die Wohnung wurde umgeräumt. Pflegedienst wurde organisiert. Meine Hebamme koordinierte zusammen mit der Kinderärztin die Logopädin, Physiotherapeutin und Haushaltshilfe.

Alle Energie floss in die Organisation. Im Umgang mit Josef und seiner Pflege waren wir sehr unsicher. Wir waren sehr verletzlich und dünnhäutig. Ich befand mich im Wochenbett. Konnte es nicht leben. Zusätzlich waren wir im Umgang mit den schweren Schädigungen unseres Sohnes völlig verunsichert. Wir hatten keine medizinische und pflegerische Ausbildung.

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Wir wurden in der Versorgung angelernt. Wie wird ein Monitor angeschlossen? Wie werden die Werte interpretiert? Wie wird tief abgesaugt? Worauf muss ich achten? In alle den Dingen waren wir verständlicherweise unsicher. Gleichzeitig standen wir unter Schock. Unser gesund gedachtes Kind war sterbenskrank. Wir hatten keinen Raum und keine Zeit, uns emotional damit auseinanderzusetzen, weil wir funktionieren mussten.

Wir vertrauten auf die Expertise der Pflegekräfte. Empfanden die ständige Anwesenheit als belastend. Da es keinen Raum und keine Zeit gab für uns als Familie. Keinen Rückzugsort. Anfänglich fand nur eine diffuse Auftragsklärung statt. Wir sahen uns noch nicht als Experten von Josef. Sondern sehr abhängig von der Pflegekräften. Von äußeren Einschätzungen und Handlungen.

Wir fingen erst langsam an, Handlungen zu hinterfragen. Auch war das Setting nicht deutlich. Wir fühlten uns wie eine Krankenstation. Wie zu Besuch auf der Krankenstation. Nur, dass es unser Zuhause war. Die Pflegekräfte zu Gast waren. Jedoch konnten wir anfänglich nicht die ganze Verantwortung übernehmen, da uns das Wissen über Josef fehlte. Das Wissen um das komplexe System (Bestellung von Schläuchen, Medikamente, Besorgen von Rezepten usw.).

"Der Übergang von der Intensivstation nach Hause war viel zu hart. Wir haben uns in dieser Phase nicht gut abgrenzen können."

Das Wissen mussten wir uns aneignen. In einer Phase, in der wir völlig verunsichert und verletzlich waren. In einer Phase, in der wir Schutz und Ruhe gebraucht hätten, um uns zu sortieren und zu stärken, waren wir dem System (welches für uns undurchsichtig war) völlig ausgeliefert.

Der Übergang von der Intensivstation nach Hause war viel zu hart. Wir haben uns in dieser Phase nicht gut abgrenzen können. Aufträge nicht gut klären können, da wir nicht wussten, auf was es ankommt. Nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten. Was üblich ist. Wie alles funktioniert. In dieser Zeit nahmen wir viele Grenzüberschreitungen wahr. Zum einen geschah dies aus Unwissenheit, Verunsicherung.

Auch die Pflegekräfte waren verunsichert und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollen. Ein Wechselspiel. Es führte zu Verletzungen, Verwirrungen und Verstrickungen. Bis sich die Situation durch die Kündigung durch den Pflegedienst auflöste.

Im Kinderhospiz

Es gab im Kinderhospiz einen festen Rahmen. Wir waren Gäste. Im Kinderhospiz war Josef Gast, nicht Patient. Die Verantwortung für die Versorgung übernahm das Hospiz. Pflegedienstleitung und Stationsleitung.

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Wir hatten die Möglichkeit, uns zurückzuziehen und uns emotional mit der Situation auseinanderzusetzen. Gefühle wahrzunehmen und Ausdruck zu verleihen. Es war auch wieder Platz für positive Gefühle. Wir hatten einen Raum – das Elternzimmer - in dem wir ungestört und unbeobachtet waren. Wir konnten weinen. Lachen. Uns mit anderen Eltern austauschen. Sofern wir die Nähe aushielten. Wir konnten die Organisation des Alltages abgeben.

"Trost annehmen. Es fühlte sich gut an, weil wir auch wieder auf Distanz gehen konnten."

Nach und nach lernten wir von den Pflegekräften im Kinderhospiz. Sie hatten viel Erfahrungen mit Kindern wie Josef. Wir lernten, worauf wir zu achten haben. Wie wir Josef am besten lagern. Wie seine Zustände zu deuten sind. Wir lernten, wie wir den Pflegealltag organisieren können. Zwischendurch konnten wir uns zurücknehmen. Ausruhen und nachwirken lassen.

Zu den Pflegekräften im Kinderhospiz konnten wir Nähe zulassen und in den Arm nehmen lassen. Trost annehmen. Es fühlte sich gut an, weil wir auch wieder auf Distanz gehen konnten.

Zu Hause war dies mit den Pflegekräften nicht möglich. Die Pflegekräfte waren bei uns zu Gast - in unserem privaten Rückzugsort. Es war so nah und dicht, dass wir keinen echten Rückzugsort mehr hatten. Nur Orte außerhalb unserer Wohnung. Oder still in unserem Schlafzimmer. Oder im Bad.

Im Kinderhospiz konnten wir spazieren. Hatten eine Elternwohnung. Mit einem guten Abstand zu Josefs Zimmer. Deshalb konnten wir eher die Nähe mit den Kinderhospizmitarbeiter_innen zulassen als zu Hause.

Dennoch war es kein Ort auf Dauer. Der Alltag mit den Kindern wollte gelebt werden. Klara musste in die Schule. Uli arbeiten. Im Kinderhospiz zu leben war nur eine Option für Übergangsphasen. Wir wollten die Verantwortung für unseren Sohn Josef und für unsere Familie voll und ganz tragen. Dazu waren Erholungsphasen notwendig. Raum und Zeit für die emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben. Mit der Abschied. Dazu hatten wir zu Hause nur sehr selten Kapazitäten.

Dennoch war es uns wichtig, die meiste Zeit mit unseren Kindern zu Hause zu leben. Den sterbenden Josef in unser Leben zu integrieren.

Nachlesen: Josef kommt nach Hause, Josef zum ersten Mal im Kinderhospiz

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