Wir wären doppelt aus der Welt gefallen, mein Josef. Doppelt und dreifach. Nun sind wir nur einmal aus der Welt. Gefallen.

Es ist 22.20 Uhr. Ich schalte das Licht aus. Jette schläft neben mir. Schon seit zwei Stunden schläft sie ganz ruhig. Sie atmet kaum hörbar. Ich küsse sie. Rieche an ihren Haaren. Sie seufzt und dreht sich zur Seite. Ich lege meine Hand ganz sanft auf ihren Arm. Ich schließe die Augen.

Müde bin ich. Müde und erschöpft. Der Schlaf. Er kommt nicht. Nimmt mich nicht mit. Heute. Gedanken kommen. Gehen. Bilder in meinem Kopf. Gefühle. Sie tanzen in meinem Kopf. In meinem Körper. Ich drehe mich zur Seite. Doch sie kommen mit. Lassen sich nicht wegdrehen. Die Gedanken, Bilder und Gefühle. Einatmen und Ausatmen.

In unserer Wohnung ist es ruhig. Uli schläft. Jette schläft. Klara schläft. Nur ich. Ich schlafe nicht. In meinem Kopf. Ich sehe Josef. Sehe meinen schönen Josef. Höre seinen Atem. Seinen schweren Atem. Seinen rauschenden schweren Atem. Seine ständige Atemnot. Höre ihn. Meinen Josef. Ich würde ihn gern halten, meinen Josef. Ihn küssen.

Dann. Der Gedanke. Josef, mein Josef. Den Virus hättest du nicht überlebt. Er wäre dein Tod gewesen. Das weiß ich. Dein Tod. Tränen. Sie fließen aus mir heraus. Die Tränen. Sie stören mich nicht. Es ist eher so, als fließe etwas ab. Ein Gefühl. Wird leichter. Nicht mehr so drängend und schwer.

Wir wären doppelt aus der Welt gefallen, mein Josef. Doppelt und dreifach. Nun sind wir nur einmal aus der Welt. Gefallen. Mit dir, mein Josef, wäre es doppelt und dreifach.

Wären die Pflegekräfte noch gekommen? Wahrscheinlich weniger. Kaum. Haben ja auch alle Kinder. Der ambulante Kinderhospizdienst? Wäre er? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich nicht. Zu gefährlich. Wären wir mit dir rausgegangen, mein Josef? Wahrscheinlich nicht. Zu gefährlich. Wäre der Sauerstoffmann noch gekommen? Die Physiotherapeutin? Die Logopädin? Der Einzelfallhelfer? Die Apotheke? Hätte es noch Handschuhe gegeben? Medikamente? Desinfektion? Spritzen? Katheter? Was wäre?

Ach, mein Josef. Ach. Und dann schäme ich mich, mein Josef. Schäme mich zutiefst, weil ich denke und fühle. Jetzt, mein Josef. Jetzt bist du sicher. Du bist nicht mehr da. Und für dieses Gefühl schäme ich mich. Das wir sicher sind mit dem Nur-einmal-aus-der-Welt-geworfen-Sein.

Sicher. Was ist mit den anderen Familien? Mit den Menschen und Familien, die doppelt und dreifach aus der Welt geworfen worden sind? Was ist mit denen?

Mit Arne? Arne und seiner Familie. Arne. Er hatte einen Start in die Welt wie unser Josef. Vor 12 Jahren. Er hat Fieber. Schon seit Tagen.

Chris (seine Mutter) schreibt, wir befinden uns schon seit 12 Jahren mit Arne in Quarantäne. Doch nun, nun kommt keiner mehr. Wir sind allein, allein. Allein. Doppelt und dreifach allein. Ich bin bei euch, schreibe ich. Auch über die Distanz bin ich bei euch.

Judith. Wie geht es Judith? Judith. Auch so alt wie Klara. Wird in der Nacht beatmet. Kommt der Pflegedienst noch? Anne (ihre Mutter) und Sebastian (der Vater) wie macht ihr das? Wie kann ich euch helfen? Ich denke an euch. Denke und schicke euch Kraft. Und R.? Und O.? Und J? Und L.? Und. Und. Und. Und. Und. Und. Und. Und. Und.

Ich stehe auf. Mir ist schwindelig. Ich gehe langsam in die Wohnküche. Schleiche. Ganz langsam. Gehe auf den Balkon. Es ist still. Ganz still. Es ist 3.00 Uhr in der Nacht. Einatmen und Ausatmen. Atmen nicht vergessen, Anne. Atmen. Mir laufen Tränen. Leise Tränen. Kalt ist mir. Ganz kalt.

Ich gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Tee. Gehe in Josefs Zimmer. In unser Arbeitszimmer. In Josefsarbeitszimmer. Es ist immer noch sein Zimmer. Mit seiner Seele. Irgendwie. Ich setze mich auf das Sofa. Auf das ehemalige Pflegesofa. Es steht nun auf der anderen Seite.

Josefbild

Josefs Bild hängt an der Wand. Ich habe es schon so oft gesehen, dass es mir fast zu vertraut ist, um neue Gefühle zu wecken. Es gehört vertraut dazu. Das Bild. Einatmen und Ausatmen.

Und dann. Dann denke ich. Und fühle ich. Was gerade ist. Ein Zustand. Wir versuchen uns anzupassen. Gefasst zu sein. Vernünftig. Und doch. Und doch. Sind da zuerst die Gefühle. Etwas tun zu wollen. Es nicht wahrhaben zu wollen. Es ist so schwer, den Zustand ganz frei anzunehmen. Es ist ein Prozess.

Und die Menschen? Die Menschen verhalten sich. Zu ihren Gefühlen. Scheinen sorglos zu sein. Wütend. Verzweifelt. Handeln. Indem sie viel einkaufen. Indem sie was tun wollen. Sich schützen. Was auch immer sie tun, sie tun es aus diesen Gefühlen heraus. Aus der Unbestimmtheit.

Wer hält uns gerade in dieser Welt? Wer, mein Josef, wer? Ach, Josef, mein Josef. Es ist die falsche Frage, mein Josef. Es ist die falsche Frage. Es geht nicht darum, wer uns hält. Sondern was uns hält. Was uns hält, wenn alles schief ist. Plötzlich. Wenn die Orientierung fehlt. Wenn wir allein, allein sind.

Josef, mein Josef. Ich trinke den Tee. Ganz heiß ist er. So wie ich ihn liebe. Den Tee. Und ich weiß, mein Josef. Einatmen und Ausatmen. Und ich weiß nicht, was morgen sein wird. Ich weiß nur, ich bin. Wir sind.

Plötzlich werde ich müde. Ganz müde und schwer. Ich gehe ins Bett. Jette und Uli schlafen ganz friedlich. Ich schlafe ein. Sofort.

Um 5.50 Uhr wirft sich Jette auf mich. Ich küsse sie. Heute ist ein schöner Tag, sagt sie. Ich küsse sie noch einmal. Drücke sie wild an mich. Frage Uli, stehst du heute allein mit ihr auf. Ich brauche noch etwas Schlaf. Uli steht mit ihr auf. Geht in die Wohnküche. Ich schlafe weiter. Noch zwei Stunden.

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