, Zu Hause 1

Um 6.00 Uhr klingelt der Wecker. Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Aus dem Wohnzimmer höre ich die Inhalette. Alles nach Plan, denke ich. Alles nach Plan. Ich wasche mich.

In meinem Kopf gehen die Gedanken durcheinander. Wir werden umziehen. Nicht nur umziehen. Klara wird umgeschult. Josef bekommt ein neues Pflegeteam, eine neue Physiotherapeutin und Logopädin. Es wird neu. Anders. Gut? Wird es gut?, denke ich. Was ist schon gut? Einatmen und Ausatmen.

Wir werden mehr Raum haben. Raum für uns. Raum, den wir jetzt nicht haben. Werden uns besser abgrenzen können. Wie wichtig das ist. Das Abgrenzen. Das Für-sich-Sein. Geschützt-Sein. Vorher. Habe ich nie daran gedacht. Und nun. Mit Josef und den vielen Menschen ist es spürbar. Deutlich spürbar. Körperlich. Seelisch. Emotional.

Eine große Anstrengung, sich immer wieder zu behaupten. In seiner eigenen Wohnung. Mit seinem eigenen Kind. Immer und immer klar zu sein. Weil es einem sonst auf die Füße fällt. Uns gesagt wird, wir wären zu emotional. Labil. Kalt. Was auch immer. Wie schnell das dann geht. Mit den Zuschreibungen. Mit den Meinungen über uns. Mit dem Stempel. Mit der Stigmatisierung.

Einatmen und Ausatmen. Einatmen und Ausatmen. Einatmen und Ausatmen. Mir laufen Tränen. Weil es auch traurig ist. Möchte unsere Therapeuten nicht hergeben. Ihre Wärme. Ihren Zuspruch. Ihr Dasein.

Ich gehe ins Wohnzimmer. Josef schläft. Herzfrequenz 111. Sauerstoffsättigung 93. Die Schwester sitzt auf dem Sofa. Sie dokumentiert. Klara kommt. Wir gehen in die Küche. Ich setze Wasser auf. Für Tee und Kaffee. Decke den Frühstückstisch. Uli kommt. Ich gehe ins Wohnzimmer.

Frage die Schwester nach der Nacht. Gegen 3.00 Uhr war Josef wach, sagt sie. Er hat den Kopf nach hinten gedreht. Er hörte aber von allein wieder auf. Die Vitalwerte waren im Normbereich. Gut, sage ich. Gut. Die Schwester spült die Inhalette aus. Verabschiedet sich. Schlaf gut. Danke.

Klara geht los. Los in die Schule. Uli winkt ihr nach. Bis er sie nicht mehr sieht.

Josef, mein Josef. Er schläft. Wir sind still. Dann frage ich Uli. Was sagt Josef zu unseren Plänen? Kommt er mit? Unser Josef? Welchen Plan hat er? Unser Josef? Ich weiß es nicht, sagt Uli. Anne, ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß, sage ich. Ich weiß das doch.

Wir müssen nur immer wieder darauf achten, was er macht. Unser Josef. Ihn nicht aus den Augen verlieren. Uli, ja. Wir dürfen ihn nicht aus unseren Augen verlieren. Unseren Sohn. Uli nimmt mich in den Arm. Wir vergewissern uns. Wir sind noch da.

Josef wird wach. Ich nehme ihn aus seinem Bett. Küsse ihn. Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab.

Um 9.00 Uhr klingelt es. Die liebe Physiotherapeutin. Ich freue mich sie zu sehen. Bin gleichzeitig traurig. Abschiedstraurig. Ich ziehe Josef langsam aus. Überlasse ihn ihren wissenden Händen. Weiß sie, dass sie so viel weiß? Ihre Hände so viel wissen? Weisheitshände.

Ich erzähle ihr von unserem Umzug. Den Veränderungen. Bitte und dränge. Ach, komm doch. Komm doch mit. Zu weit, sagt sie. Leider zu weit. Leider. Leider. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Zieht doch in die große Stadt. Ich höre nicht auf, sie zu bitten. Sie lacht. Sagt, es geht nicht. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Und möchte dich doch nicht missen.

Josef macht gut mit. Hält seinen Kopf. Für eine Sekunde. Die Lunge ist frei, sagt sie. Zum Abschied umarmen wir uns.

Um 10.00 Uhr klingelt es. Die Schwester. Wir überlassen ihr unseren Josef. Haben Dinge zu erledigen. Kündigungen abzugeben für den Hort. Mit dem Schulamt zu sprechen. Umzugsunternehmen aufzusuchen.

Wir holen Klara vom Hort ab. Fahren mit ihr nach Hause. Sie ist traurig.

Zu Hause. Tee. Kaffee. Kakao. Ich nehme meinen Josef. Er dreht seinen Kopf wieder nach rechts. Nach hinten rechts. Sein Körper wird angespannter. Er stöhnt. Ich gebe ihm das Notfallmedikament. Es wird leichter. Das Kopfdrehen. Hört aber nicht auf. Uli gibt ihm noch ein Medikament. Ruft das SAPV-Team an. Spricht lange mit der Schwester. Vereinbart, morgen den Arzt in der Klinik zu treffen.

Josef schläft ein. Von den Medikamenten. Sein Körper ist ganz schlapp. Er hat keinen Tonus mehr. Ich lege ihn vorsichtig in sein Bett. Schalte den Monitor an. Herzfrequenz 108. Sauerstoffsättigung 95. Wir verabschieden die Schwester.

Zum Abendbrot essen wir Brot. Josef bekommt im Schlaf ein wenig Brei. Tee. Medikamente. Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab. Ich ziehe Josef vorsichtig um. Lege ihn wieder in sein Bett. Er schläft. Tief und fest. Ist in einer anderen Welt. Unser Josef. Weit weg. Weit weg. Ich spüre eine Unsicherheit in mir. Ich bin unsicher, ob Josef mitkommt. Er überhaupt noch so lange bei uns bleibt.

Uli bringt Klara ins Bett. Liest ihr vor. Macht ihr das Hörspiel an. Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Wir gehen ins Bett. Schlafen spät.

Zuletzt aktualisiert am: 29.12.2020


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