, Zu Hause 2

Um 6.00 Uhr klingelt der Wecker. Seminar heute. Das letzte Seminarwochenende für dieses Jahr. Ich bleibe liegen. Spüre meine Schwere.

Uli. Schaut mich an. Sagt, du fährst heute. Es wird dir gut tun. Du musst raus, Anne. Okay, sage ich. Ich stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Kaltes Wasser in meinem Gesicht. Noch einmal kaltes Wasser. In meinem Gesicht.

Ich gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Tee. Kaffee. Packe meine Tasche. Unterlagen. Tee. Einen Apfel. Ich gehe in Josefs Zimmer. Josef liegt im Arm der Schwester. Er atmet gleichmäßig. Ich streichele seinen Kopf. Küsse ihn. Frage nach der Nacht.

Die Schwester sagt, Josef hat entspannt geschlafen. Es war eine gute Nacht. Kein Fieber. Keine sichtbaren Krämpfe. Das Sekret läuft. Gut, sage ich. Gut. Ich küsse Josef. Verabschiede mich.

Laufe zum Bus. Dann Bahn. Es wird ein warmer Tag. Im Seminar. Ein Platz wurde für mich freigehalten. Ich freue mich. Ich bin da. In der Pause telefoniere ich mit Uli. Alles gut, sagt er. Wir machen es uns gemütlich. Nachher gehen wir spazieren.

Gut, sage ich. Wunderbar. Bin glücklich. Josef, mein Josef. Er ist wieder da. Bei uns. Oder. Wünsch ich es mir nur? Der Tag rauscht vorbei. Das letzte Wochenende in diesem Jahr. Schon viel geschafft.

Um 15.30 Uhr klingelt mein Telefon. Uli. Sagt, Josef. Ihm geht es schlecht. Ganz plötzlich. Bitte komm. Das SAPV-Team hat er schon angerufen. Ich komme, sage ich. Mein Herz überschlägt sich. Ich renne. Aus dem Seminar. Zum Bahnhof.

Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Rufe an. Frage. Uli sagt, Josef atmet ganz komisch. Bekommt Sauerstoff. Es geht ihm schlecht. Bahn. U-Bahn. Taxi. Ich sage zu der Taxifahrerin: Beeilen Sie sich. Mein Kind stirbt. Ich bin angespannt. Hochgradig angespannt. Zittere am Körper.

Zu Hause. Josef, mein Josef. Er atmet unregelmäßig. Er sieht ganz verändert aus. Seine Haut ist ganz blass. Er schwitzt. Seine Augen gehen immer nach rechts. Er hat kaum Körperspannung. Ich küsse Josef. Es klingelt, die Schwester vom SAPV-Team kommt. Wir geben Josef ein Krampfmedikament. Die Atmung wird ein wenig besser.

Ich küsse Josef immer wieder. Immer wieder. Halte ihn. Hoffe, es hört auf. Hoffe, gleich atmet er wieder gleichmäßig. Hoffe, ich kann etwas bewirken. Und kann es doch nicht. Habe es nicht in meiner Hand. Habe es nicht. Und würde doch. Josef, mein Josef.

Uli erzählt. Josef lag im Arm von Klara. Nahrung kam hoch. Uli hat abgesaugt. Danach hat sich sein Zustand drastisch verändert. Inhaliert hat Uli. Abgesaugt. Es wurde nicht besser. Uli, mein Uli. Du hast keine Schuld. Und wenn doch, fragt Uli. Nein, sage ich. Nein. Ich hätte aufpassen müssen, sagt Uli. Nein, sage ich. Du hättest nicht. Und wir wissen nicht, was wie zusammenhängt.

Klara schaut fern. Ist im Schlafzimmer. Es klingelt. Die Ärztin. Hört Josef ab. Sagt. Die Lunge ist frei. Dann geben wir ein anderes Notfallmedikament. Gegen die Krämpfe. Es hilft nicht. Josef zuckt am Körper. Seine Arme zucken. Sein Kopf dreht sich. Seine Augen. Ich halte ihn. Küsse ihn. In der Hoffnung, ich könnte. Kann die Hoffnung nicht aufgeben.

Wir geben noch ein Medikament. Ich halte Josef. Küsse ihn. Dann entscheiden wir, Josef zu baden. Er ist ganz verschwitzt. Baden. Das genießt er. Vielleicht hilft es. Ich ziehe Josef aus. Küsse ihn. Uli lässt Wasser in die Wanne. Badet Josef. Ich trockne ihn ab.

Das Krampfen hört auf. Das sichtbare Krampfen. Herzfrequenz 175. Sauerstoffsättigung 90. Josef bekommt Sauerstoff. Weiterhin. Uli liest Klara vor. Macht ihr das Hörspiel an.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Sie kennt Josef gut. Aus dem Kinderhospiz. Wir sprechen zusammen. Das SAPV-Team. Die Schwester. Wir. Ich lege Josef in sein Bett. Er ist erschöpft. Schwitzt wieder. Seine Herzfrequenz ist hoch. Zwischen 175 und 180.

Die Ärztin fragt, ob wir in die Klinik wollen. Mit Josef. Auf die Kinderintensivstation. Sie würden ihn beatmen. Mein Herz. Bis zum Hals. Schon seit Stunden. Ich weiß es nicht, sage ich. Wahrscheinlich würden sie Josef beatmen und ihm ein Antibiotikum über die Vene geben. Wahrscheinlich. Wir können es aber auch weiter zu Hause versuchen.

Uli sagt, wir bleiben hier. Die Ärztin sagt, besprechen Sie sich noch einmal. Uli und ich. Gehen auf den Balkon. Entscheiden, zu Hause zu bleiben. Die Ärztin verabschiedet sich. Die Palliativschwester auch. Wir bleiben bei Josef. Er bekommt Zitronenwaschungen. Flüssigkeit. Medikamente. Küsse. Wir gehen ins Bett. Schlafen. Kaum.

Zuletzt aktualisiert am: 29.05.2021


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