, Zu Hause 2

Um 7.00 Uhr klingelt der Wecker. Mir laufen Tränen. Ich weiß nicht. Woher. Sie laufen. Ganz leise. Sie müssen geweint werden. Als würden sie sich sammeln. Und dann fließen. Es muss wohl so sein.

Ich stehe auf. Die Katze liegt auf Ulis Sachen. Klara schläft noch. Sie hat sich aufgedeckt. Es ist so warm. Ihr Haar ist leicht verschwitzt. Ich küsse sie. Ganz sanft.

Stehe auf. Gehe ins Bad. Wasche mich. Fühle mich heute nicht so erschöpft. Energievoller. Unsere Freunde haben uns Energie geschenkt. Etwas dagelassen. Ich hoffe, sie fühlen sich nicht leer. Durch uns. Wasche mein Gesicht. Mit kaltem Wasser.

Hoffe, wir rauben den Menschen keine Energie. Hoffe, wir stehlen nicht. Und brauche doch. Viel davon. Von der Energie. Es ist gut, denke ich. Gut. Gut, dass wir nächste Woche vier Tage am Meer sind. Auftanken. Für uns sorgen. Uns die fehlende Energie nicht zusammenstehlen.

Ich wasche mein Gesicht. Noch einmal. Schüttele den Kopf. Als müsste ich mich vergewissern. Schüttele ihn und schüttele ihn. Wir haben unseren Freunden keine Energie geraubt. Das haben wir nicht.

Sie haben uns Energie gegeben, weil sie momentan mehr davon haben. Würden uns noch mehr geben wollen, das spüre ich. Ich gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Tee. Kaffee.

Gehe auf den Balkon. Es ist warm. Heute wird es bestimmt ein Gewitter geben. Josef, denke ich. Josef. Josef und die Krämpfe. Die Bereitschaft zum Krampfen ist erhöht bei Josef, wenn es Gewitter gibt. Josef und das Gewitter im Kopf.

Ich gehe in Josefs Zimmer. Er schläft. Josef, mein Josef. Schlaf, mein Bär. Schlaf. Die Schwester. Sitzt auf dem Sofa. Sagt, Josef hatte eine ruhige und entspannte Nacht. Keine Krämpfe. Vitalwerte waren im Normbereich. Kein Fieber. Das Sekret läuft gut.

Sie steht auf. Streicht mir über den Arm. Sagt, wer hätte das gedacht? Ja, sage ich. Ja. Es entzieht sich unserem Denken. Das Sterben und das Leben. Uli kommt. Sie verabschiedet sich. Schlaf gut. Danke.

Josef, mein Josef. Wir sitzen bei Josef. Trinken Kaffee. Sind still. Miteinander. Klara kommt. Fragt, ob sie fernsehen kann. Ja, sage ich. Ja. Es ist doch Wochenende. Sie kuschelt sich wieder in unser Bett. Schaut fern.

Uli deckt den Frühstückstisch. Ich stelle mich zu Josef. An sein Bett. Streichele seine Locken. Küsse ihn. Flüstere ihm Liebesschwüre in sein Ohr. Bedanke mich. Für die Tage. Stunden. Wochen. Für all das, was er uns schenkt, unser Josef. Unser Sohn.

Wir frühstücken. Josef schläft. Oder schlummert. Wo immer er auch ist. Unser Josef. Uli inhaliert Josef. Saugt ihn ab. Ich nehme ihn aus seinem Bett. Er ist ganz schlapp. Ziehe ihn vorsichtig um. Das ist schwierig, weil er keine Körperspannung hat. Dann lege ich ihn vorsichtig auf das Lagerungskissen Malta.

Die Katze springt umher. Voller Leben. Das schmerzt. Manchmal. Das volle Leben in dieser Katze. Das schwindende in Josef. Ich gebe Josef seinen Morgenbrei. Tee. Medikamente. Inhalation. Absaugen. Josef schläft.

Gegen Mittag wird Josef wach. Ich inhaliere Josef. Sauge ihn ab. Küsse ihn. Nehme ihn in den Arm. Lege ihn mir auf die Brust. Das Telefon klingelt. Der Musiktherapeut. Fragt, ob Klara kommen mag. Die anderen beiden Geschwisterkinder sind auch da. Sie können zusammen proben. Klara freut sich.

Wir gehen zusammen. Alle zusammen ins Kinderhospiz. Klara verschwindet mit den Geschwisterkindern im Musiktherapieraum. Wir setzen uns in den Garten. In eine schattige Ecke. Gäste sind da. Pfleger. Schwestern. Eltern. Wir erzählen. Lachen. Es gibt viel Tee. Durch die Bauchschläuche. Wasser für uns.

Heute ist es ein klein wenig kühler. Wasserschüsseln werden gebracht. Hände und Füße werden gekühlt. Es ist schön. Schön, nicht allein zu sein. Schön, zu lachen. Zu erzählen. Es ist leichter. Das Leben ist leichter.

Nach der Probe gehen wir nach Hause. Essen Abendbrot. Die Reste von gestern. Kartoffelsalat und Würstchen. Etwas Eis zum Nachtisch. Josef ist entspannt. Liegt abwechselnd in unseren Armen. Ich küsse Josef.

Josef hat sich verändert. Gewandelt. Auch ich verändere mich. Wandele mich. Wir wandeln uns. Vertrauen Josef. Uns. Sind bei uns. Auch wenn es schmerzt. Das Sterben. Es ein Prozess ist. Wie das wachsende Leben ein Prozess ist. So ist es wohl auch mit dem Sterben. So ist es wohl.

Wir schauen zusammen Kinderfernsehen. Uli bringt Klara in ihr Bett. Liest ihr vor. Macht das Hörspiel an. Josef schläft auf mir.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Ich lege Josef in sein Bett. Herzfrequenz 110. Sauerstoffsättigung 93. Kein Gewitter heute. Noch kein Gewitter. Wir gehen ins Bett. Schlafen.

Zuletzt aktualisiert am: 29.06.2021


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