, Zu Hause 2

Der Wecker klingelt. Ich bin wach. Vorher. Lange. Schon. Die Gedanken. In meinem Kopf. Das schlechte Gewissen.

Darf ich das andere auch sein? Oder? Und? Oder? Mutter. Nur Mutter. Mutter eines gesunden Kindes. Mutter eines sterbenden Kindes. Was darf ich sein? Was erlaube ich mir? Was wird erwartet? Stopp, denke ich. Nicht die Erwartungen der anderen Menschen als Maßstab nehmen. Nicht die vermeintlichen Erwartungen der anderen.

Es ist unser Leben. Unser. Nicht das der anderen. Manchmal vermischt sich alles. Keine Orientierung. Was ist richtig? Was ist falsch? Einatmen und Ausatmen.

Ich stehe auf. Die Tür klappert. Ich warte. Gehe ins Bad. Wasche mich. Denke, ich entscheide. Entscheide danach, wie es Josef geht. Entscheide danach, wie es sich anfühlt. Entscheide in Rücksprache mit Uli. Entscheide dann.

Ich gehe in die Wohnküche. Setze Wasser auf. Für Kaffee. Tee. Gehe auf den Balkon. Der Fuchs läuft über den Schulhof. Ich freue mich sehr. Wie ein alter Bekannter. Der Fuchs. Er leuchtet fast. Der Fuchs. In der Sonne.

Ich gehe in Josefs Zimmer. Josef, mein Josef. Guten Morgen. Josef schläft noch. Herzfrequenz 124. Sauerstoffsättigung 96. Alles gut, denke ich. Alles gut. Ich frage nach der Nacht. Josef schlief durch. Vitalwerte waren im Normbereich. Kein Fieber.

Gut, sage ich. Gut. Bin erleichtert. Der Pfleger räumt. Spült. Wechselt aus. Zieht auf. Uli kommt. Sagt, du musst los. Ja, sage ich. Ja. Soll ich? Uli verdreht die Augen. Okay, sage ich. Ich fahre.

Meine Sachen packe ich. Unterlagen. Tee. Einen Apfel. Durch den Morgen eile ich. Straßenbahn. S-Bahn. Zug. Der Morgen heute. In der Stadt. Die durchfeierten Stunden wirken nach. Betrunkene Menschen. Ausgekipptes Bier in der Bahn. Geruch. Von.

Ich bin da. Gesammelter. Als gestern. Bei mir. Eher wieder bei mir. Nicht bei den Erwartungen der anderen. Bei der Moral. Heute schicke ich sie weg. Die vielen Gedanken.

Bin da. Im Seminar. Lasse mich ein. In der Pause. Rufe ich an. Alles gut, sagt Uli. Die Schwester kommt gleich. Josef ist entspannt. Übergeben hat er sich nicht, sagt Uli. Kein Fieber. Wer weiß, was es war, gestern. Ja, sage ich. Ja. Wer weiß.

Der Nachmittag zieht sich. Dann doch. Müdigkeit. Erschöpfte Müdigkeit. Es ist zu Ende. Zu Ende gegangen. Uli und Klara. Sie holen mich ab. Ein Eis noch, fragt Klara. Gut, sage ich. Gut. Wir essen ein Eis. In dem Cafe. Gleich gegenüber.

Ich werde unruhig. Merke, ich möchte nach Hause. Wieder Mutter sein. Mutter zweier Kinder. Wir fahren los. Kommen gut durch. Ich bin dankbar, mich heute nicht durch die Menschen schieben zu müssen. Wir kommen an.

Zu Hause. Josef, mein Josef. Er ist angespannt. Er streckt sich. Ich nehme ihn in den Arm. Küsse ihn.

Die Schwester sagt, bis 18.00 Uhr war Josef ganz entspannt. Dann plötzlich hustete er. Es kam viel Sekret. Okay, sage ich. Okay.

Uli nimmt Josef. Ich ziehe mich um. Schlüpfe in meine andere Rolle. Nehme Josef wieder. Die Schwester räumt. Spült. Zieht auf. Ich halte Josef. Lege ihn mir auf die Knie. Helfe ihm beim Atmen. Er streckt sich immer wieder. Ich gebe ihm ein Schmerzmittel. Küsse ihn. Lege Josef auf meine Brust.

Wir atmen zusammen. Einatmen und Ausatmen. Ich bin ganz bei Josef. Ganz bei ihm. Dann.

Klara. Sie holt aus ihrem Zimmer eine große Stadt. Eine große Stadt aus Pappe. Sie ist stolz. Sehr stolz. Erzählt. Sie hat zusammen mit Papa diese Stadt gebastelt. Aus den Kartons. Von Josef.

Uli hat kleine Lichter eingebaut. Mir laufen Tränen. Ich bin berührt. Sehr berührt. Uli und Klara hängen diese Stadt über Josefs Bett. Es ist so schön. Josef, mein Josef. Klara und Uli holen dir die Stadt in dein Zimmer.

Josef schläft ein. Auf mir. Ich lege ihn in sein Bett. Über ihm die leuchtende Stadt. Herzfrequenz 130. Sauerstoffsättigung 95.

Uli bringt Klara in ihr Bett. Liest ihr vor. Macht das Hörspiel an.

Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Sie ist bewegt. Von der Stadt. Wir erzählen. Uli vom Tag. Besprechen, was zu tun ist. Vielleicht in der Nacht. Welche Medikamente, wann und was vielleicht zu erwarten ist.

Machen einen Plan. Wie jeden Abend. Machen wir einen Plan. Um 22.30 Uhr, sagt Uli, bitte das Licht der Stadt ausmachen. Dann gehen alle schlafen. Wir lachen. Gehen ins Bett. Schlafen. Um 22.30 Uhr.

Zuletzt aktualisiert am: 30.04.2021


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