Ausgesprochenes und Unausgesprochenes. Müssen wir lernen, über den Tod zu sprechen?

Wie kann über die schwierigsten Fragen gesprochen werden? Fragen, die Familien nur begegnen, wenn sie ein sehr krankes Kind haben? Fragen über das Leben und das Sterben? Fragen, die Eltern von sehr kranken Kindern mit Ärzt_innen, Pflegefachkräften, Therapeuten besprechen. In Situationen, in denen möglicherweise wichtige Entscheidungen gefällt werden:
Ist Josef überhaupt lebensfähig? Wie lange bleibt er an der künstlichen Beatmung? Was ist ein Kinderhospiz? Was bedeutet es, von einem Palliativteam versorgt zu werden? Wie wird sein Weg sein, wie können wir damit umgehen? Mit seinem Leben, das ein Leben im Sterben ist?

Wir haben viel darüber gesprochen, haben “es” ausgesprochen und auch unausgesprochen gelassen.

Ausgesprochen: "Er wird sterben."

Das Ausgesprochene ist der übliche Weg: "Josef wird sterben". Wir alle müssen damit leben und es anerkennen. Für alle Beteiligten gilt das. Auch wenn wir nicht wissen, wie Josefs Leben verlaufen wird. „Tod“, „Sterben“ sind die Worte, die wir dafür benutzen. Und weniger so etwas wie das beschönigende Wort „einschlafen“. Wir als Eltern sprechen es auch aus, machen “es” dadurch wirklich. "Es": den Tod und das Sterben. Um offen darüber sprechen.

Das wiederholte „Er wird sterben“ aus dem Mund von Ärzt_innen war uns aber an manchen Tagen zu viel, eine Zumutung, zu brutal. „Ja, das wissen wir doch“, war dann immer unsere Antwort. “Ja, wir haben es verstanden.” Wir haben es damals selten gewagt, zu intervenieren. Zu sagen, wir möchten jetzt in dieser Situation in Josefs Leben leben, nicht seinen Tod ständig in den Raum hineinreden. Wir haben akzeptiert, dass es üblich ist, “es” auszusprechen.

Unausgesprochen: Was können wir tun?

Das Unausgesprochene ist ein anderer Weg: Ich erinnere mich an vertraute und intensive Gespräche, in denen das Anerkennen von Josefs kurzer Lebenserwartung ganz deutlich im Mittelpunkt stand, aber sein “Sterben” nicht ausgesprochen werden musste. Alle am Tisch wussten, worum es geht. Der Fokus lag auf dem Leben, auf der Handlungsfähigkeit. Auf dem Was-können-wir-tun. Diese Gespräche waren ebenso konstruktiv wie die, in denen das Aussprechen richtig war.

Es wird offenbar allgemein als wichtig und richtig im medizinischen Umfeld angesehen, “offen” über Tod und Sterben zu sprechen. Dies gilt als richtiger Weg: keine Tabus, Gespräche offen und ohne Scheu.

Der australische Psychologe Stuart Ekberg hat mit einem Forscherteam neun Gespräche auf einer kinderpalliativmedizinischen Station in einer ersten kleinen (konversations-analytischen) Studie genau daraufhin untersucht: muss es immer das explizite Aussprechen sein, um die Situationen adäquat zu erfassen? Kann das implizite Nicht-Aussprechen nicht genauso wertvoll und ausdrucksvoll sein?

ausgesprochen-unausgesprochen-1

Gesprächssituationen, die niemals Normalität waren

Was mich an diesem Artikel auch sehr berührt, sind die protokollierten Gesprächssituationen, die so lebendig sind. Gesprächssituationen, die wir auch ähnlich erlebt haben. Gesprächssituationen, die unsere Familiengeschichte geprägt haben. Gesprächssituationen, die niemals Normalität waren.

Wie dieser gekürzter Gesprächsausschnitt zwischen Mutter (MUM), Vater (DAD) und einem Neurologen (NEU):

MUM: Okay, also unsere Entscheidungen sind dass wir keine
DAD: keine Reanimation
MUM: keine Reanimation möchten, keine Intubierung
NEU: Ja.
MAM: oder ähnliches. [...]
NEU: Ja.
DAD: Und am besten die Möglichkeit, ihn nach Hause mitzunehmen.
NEU: Ja.
MUM: Ja. Ja.

Den Tod unausgesprochen lassen und dennoch klar darüber sprechen

Nachdem ich den Artikel gelesen habe, habe ich Stuart Ekberg meine Gedanken zu dieser Studie geschrieben. Stuart hat mir vorgeschlagen, dass er mir einige Fragen zu seiner Studie beantworten kann. Dieses Angebot habe ich sehr gern angenommen.

Was hat Sie dazu motiviert, über Kinder und deren Familien im Umfeld von Palliativversorgung zu forschen – ist das nicht eine sehr sensible und private Angelegenheit?
Soweit wir wissen, hat bisher niemand Videokameras benutzt, um reale Gespräche im Rahmen einer palliativen Versorgung aufzuzeichnen. Die meisten bestehenden Forschungen beinhalten Interviews mit Fachleuten und Familienmitglieder über die Kommunikation einer solchen Situation.
Das Problem mit diesem Ansatz ist, dass Interviews nur indirekt zeigen, wie die Kommunikation ist. Und deshalb wollten wir direkt zeigen, wie die Kommunikation verläuft. Was uns überraschte war der Umfang, in dem die Familien unseren Ansatz unterstützten – über 80% stimmten zu, an unserer Studie teilzunehmen. Auf Grund ihrer Großzügigkeit ist es uns möglich geworden, neue Einsichten über die Art und Weise der Kommunikation im palliativmedizinischen Umfeld zu gewinnen.

Sollten Eltern von Kindern mit einer lebensverkürzenden Erkrankung „lernen“, explizit über den “Tod” zu sprechen?
Viele der bestehenden Richtlinien sagen , dass es für Menschen wichtig ist, über das Lebensende zu sprechen, und dabei so viel wie möglich die Begriffe „sterben“ und „Tod“ explizit zu benutzen. Ausgehend von dieser Empfehlung können mögliche Missverständnisse vermieden werden, die auftreten können, wenn indirekt über Tod gesprochen wird.
Als wir die Videoaufnahmen von tatsächlichen Palliativversorgungs-Gesprächen betrachteten, beobachteten wir aber, dass Professionelle und Familien normalerweise Sterben und Tod implizit besprechen. Ein Elternteil könnte zum Beispiel sagen, dass ihr Kind „näher und näher rückt“, aber ohne ausdrücklich zu sagen, dass über Tod gesprochen wird. Nichtsdestotrotz haben wir wiederholt beobachtet, dass jeder der Beteiligten verstanden hat, worum es ging.

Ein Grund dafür, Tod auf diese implizite Weise zu besprechen, ist eine sensible Art des Herangehens an so ein schwieriges Thema. Menschen neigen nicht dazu, auf die gleiche Art und Weise über den Tod eines nahen Menschen zu sprechen, als wenn sie über den Tod von Jemandem sprechen, der ihnen nicht nah ist. Unsere Forschung zeigt, dass Menschen nicht explizit über Tod sprechen müssen, um detaillierte und anspruchsvolle Diskussionen darum zu führen. Dies zeigt, dass so lange jeder versteht, was besprochen wird, es keinen triftigen Grund dafür gibt, über Tod explizit zu sprechen.

Wie würden Sie den Wert ihrer Ergebnisse, das Forschungsfeld und das Analysieren von Gesprächen in diesen schweren Situationen für die Familien beschreiben?
Diese Studie zeigt die Wichtigkeit von direkten Studien darüber, wie Menschen in der Kinderpalliativversorgung kommunizieren, anstatt auf indirekte Formen von Nachweisen wie Interviews mit Fachleuten und Familien zurückzugreifen. Mit diesen Materialien, können wir die anspruchsvollen und vielfältigen Wege wertschätzen, wie Familien und Professionelle über den Tod sprechen, oft ohne jemals die Worte „Tod“ und „Sterben“ zu verwenden.

Wie geht es weiter mit Ihrer Forschung?
Wir haben eine Förderung von Australian Research Council bekommen. Sie wird uns dabei unterstützen, unsere Forschung auszuweiten. Bisher untersuchen wir nur eine Einrichtung, nun können wir landesweite Untersuchungen starten.
Ein Ziel dieser großen Studie ist es, die Bandbreite zu verstehen, wie Familien und Professionelle über den zukünftigen Tod eines (sehr kranken) Kindes sprechen.
Wir schauen besonders darauf, ob indirekte Gespräche Probleme erzeugen, zum Beispiel ob Missverständnisse entstehen. Wenn diese Probleme beobachtet werden, sind bestehende Richtlinien gerechtfertigt, die die offenen Gespräche über Tod und Sterben empfehlen.
Wenn wir hingegen keine derartigen Probleme finden, bestärkt uns das in unseren Erkenntnissen, dass es nicht nötig ist, Tod und Sterben explizit anzusprechen um eine gutes und tiefgehendes Gespräch darüber zu führen.

Herzlichen Dank, Stuart!
Stuart Ekberg, Susan Danby, Johanna Rendle-Short, Anthony Herbert, Natalie K. Bradford, Patsy Yates (2019) Discussing death: Making end of life implicit or explicit in paediatric palliative care consultations. Patient Education and Counseling, 102(2), pp. 198-206.

Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Blog:

17 | Früh fahren wir los.
Josef gehe es unverändert. Ab und zu atme Josef allein. Reflexe seien nicht auslösbar. Neurologisch sei Josef hoch auffällig. Schwerst geschädigt. Was tun? Er nennt wohl überlegte drei Optionen: 1. Josef bleibt beatmet. 2. Josef kommt von der Beatmung und wir beobachten was er macht. Er wird dann aber nicht mehr beatmet. Auch wenn es ihm schlechter geht. Er es nicht schafft allein zu atmen. 3. Josef wird von der Beatmung genommen. Sollte es ihm schlechter gehen, wird er wieder beatmet.

133 | Um 6.00 Uhr klingelt der Wecker.
Sie bleibt die ganze Zeit neben mir. Macht mir Mut, den Blick überall hinzuwenden. Abzuwägen. Fragen zu stellen. Alle Fragen die ich habe. Ich denke, ah, dafür brauchte ich heute den Mut. Den Mut meine Fragen auszusprechen. Durchzusprechen. Was wäre wenn? Den Mut zu haben zu sagen, ich möchte nicht. Dass Josef irgendwann von vielen Maschinen abhängig ist. Er nicht mehr allein atmen kann. Der Atem ist doch sein Leben. Damit zeigt er sich. Wo ist die Grenze. Wir sprechen über Maskenbeatmung. Über Intubation. Sprechen alles durch. Nehmen alles auseinander und setzen es wieder zusammen.

296 | Um 6.30 Uhr klingelt der Wecker.
Wir reden. Eine lange Weile reden wir. Ich halte Josef in meinem Arm. Wir sprechen über Josef. Über uns. Über das Leben im Sterben. Dass wir uns zusammen auf eine Reise begeben haben. Wir nicht wissen, was uns erwartet. Wir alle nicht wissen, was kommen wird. Wie es sich anfühlen wird. Auch die Ärztin nicht. Wir wissen es nicht, sagt sie. Wir müssen es alle zusammen aushalten. Das Leben im Sterben.

480 | Es klopft an der Tür.
Um 13.00 Uhr klingelt es. Das SAPV-Team. Uli kommt dazu. Josef wird abgehört. Untersucht. Kein Infekt, sagt die Ärztin. Josef wird sterben, sagt sie. Mir laufen Tränen. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Das Sterben sagt sie, ist ein Prozess. Es kann Wochen, Monate und Jahre dauern. Das Sterben. Ich denke, Josef befindet sich in diesem Prozess.

510 | Der Wecker klingelt. Es ist 6.30 Uhr.
Wir reden lange. Über Josef. Seinen Zustand. Wie können wir es aushalten? Wie? Sie machen es gut, sagt der Arzt. Wir sind da. Ich weiß, sage ich. Ich weiß. Weiß darum. Und doch. Ist es schwer. Das Aushalten. Ja, sagt der Arzt. Ja. Es ist schwer. Sie sind nicht allein. Dann gehen sie. Und ich fühle mich nicht allein. Bin nicht allein. Wir halten alle aus. Josef, mein Josef. Wir halten dich.

Autor: Uli

Jetzt Spenden! Das Spendenformular wird von betterplace.org bereit gestellt.

❤️ Mehr darüber, wie du uns unterstützen kannst.