Warme Tage auf der Terrasse. Eine neue Schwester. So fremd und kühl. Abschiedsbesuch von der Sozialmedizinischen Nachsorge. Umarmungen. Mut gemacht bekommen.
30.05.2018
Uli legt Josef ins Bett. Er schläft ein. Herzfrequenz 131. Sauerstoffsättigung 96. Wir sagen zur Schwester, bitte wecke uns! Wecke uns! Josef soll nicht ersticken! Ja, sagt sie. Wir gehen ins Bett. Der Schlaf ist unruhig.
31.05.2018
Die Schwester sagt, sie hat gerade noch die andere Familie besucht. Die mit dem verstorbenen Jungen. Sie hatten doch noch so viele Spritzen und Emser Salz-Lösung zum Inhalieren. Die hat sie uns mitgebracht. Uli und ich. Wir beide sind stumm.
01.06.2018
Aushalten. Das aushalten, was wir nicht ändern können. Was wir ändern können, müssen wir ändern. Für uns. Für Klara. Für Josef.
02.06.2018
Josef liegt auf mir. Schläft auf mir ein. Wir atmen zusammen. Mir laufen Tränen über die Wangen. Ganz leise Tränen. So viele Menschen. So viele Hände. Ich will das nicht, mein Josef. Es geht nicht anders. Es geht nicht anders.
03.06.2018
Das Telefon klingelt. Der Sauerstoffmann. In einer halben Stunde ist er da. Gut, wir auch. Um 12.30 Uhr klingelt es. Der Sauerstoffmann. Er hieft die Sauerstofftonne mit der Sackkarre die Treppe hinunter. Unten höre ich es zischen. Die Tonne wird gefüllt.
04.06.2018
Was ist, wenn man aus dem Leben herausfällt? Das für andere Menschen weiter geht? Die Regeln nicht mehr gelten, die für andere gelten? Was dann?
05.06.2018
Ich bringe Klara ins Bett. Lese ihr vor. Ein Chaos ihr Zimmer. Ein wunderbares Kinderchaos. Es war so schön heute, sagt sie. Wir umarmen uns lange. Das ist schön, meine Sonne. Ich mache ihr das Hörspiel an.
06.06.2018
Mein Gefühl ist so stark. Es sagt: Nein. Die Schwester. Allein mit Josef. Den ganzen Tag. Das geht nicht. Das geht nicht. Geht nicht. Geht nicht. Oder doch?
07.06.2018
Die Tränen. Um Josef. Der Abschied. Davon, dass ich das nicht erleben werde. Nicht erleben werde, wie er läuft, wie er spricht, wie er lacht. Das alles werde ich nicht erleben.
08.06.2018
Ich frage nach der Nacht. Die Schwester sagt, Josef hatte gegen 4.00 Uhr einen Sauerstoffsättigungsabfall auf 75. Er war zyanotisch. Blau. Sie hat ihn abgesaugt. Dann war es wieder gut.
09.06.2018
Heute sind wir stark. Heute fahren wir an den Badesee. Mit Klara und Josef. Wir verstecken uns heute nicht. Uli trägt die Sachen ins Auto. Absauge. Katheter. Brei. Spritzen. Medikamente.
10.06.2018
Ich habe gar keine Möglichkeit, etwas zu sagen. Fühle mich ohnmächtig. Einatmen und Ausatmen. Ich fühle mich fast genötigt zu sagen: kein Problem.
11.06.2018
Josef schläft langsam wieder ein. Ich halte ihn in meinem Arm. Küsse ihn. Die Schwester sagt, sie möchte einen Notarzt holen. Uli ruft noch einmal das SAPV-Team an. Schildert. Sagt, wir möchten keinen Notarzt.
12.06.2018
Hätte Uli Josef nicht abgesaugt, wäre er erstickt. Erstickt. Erstickt. Erstickt. Er war so blau. Verkrampft und blau. Mein Josef. Wir müssen besser aufpassen. Auf dich.
13.06.2018
Die Operation ist ganz einfach. Josef wird intubiert. Vollnarkose. Dann wird die PEG gelegt. Der Oberarzt zeigt alles ganz genau. Ein Loch im Magen. Dann der Schlauch. Termin Ende August.
14.06.2018
Josef liegt im Arm der Schwester. Seine Atmung. Seine Atmung ist ganz schlecht. Er zieht beim Einatmen und Ausatmen. Scheint kaum Luft zu bekommen. Herzfrequenz 170. Sauerstoffsättigung 98.
15.06.2018
Uli ist wütend. Auf die Schwester. Auf Wikipedia. Auf die Macht der Pflegekräfte. Auf die Kämpfe um die Deutungshoheit. Dabei geht es doch um das Leben von Josef. Wollen wir nicht alle das beste Leben für Josef?
16.06.2018
Das Telefon klingelt. Die SAPV-Schwester. Ich sage, es ist noch nicht besser. Sie sagt, ich komme. Um 13.00 Uhr bin ich da. Danke, sage ich. Danke.
17.06.2018
Klara ist schon losgegangen. Los zur Schule. Wir haben ihr gar nicht gewunken. Waren so beschäftigt. Mit Josef. Uli ruft das SAPV-Team an.
18.06.2018
Die Schwester hat den Tee für Josef erwärmt. Das Kirschkernkissen erwärmt. Ganz eingekuschelt liegt er in ihrem Arm. Das ist schön. Schön, wie sie sich in Josef einfühlt.
19.06.2018
Ich zeige der Schwester die roten Stellen an Josefs Kinn. Sage, sie soll darauf achten. Es beobachten. Es bitte ins Übergabeprotokoll schreiben. Das hat mehr Gewicht. Als wenn ich. Als Mutter. Was sage. Ja, sagt sie. Macht sie.
20.06.2018
Josef schläft auf meiner Brust ein. Mit jedem Atemzug entspannt er sich, mein Josef. Ich mich auch. Dann lege ich ihn in sein Bett. Herzfrequenz: 140. Sauerstoffsättigung: 97. Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester.
21.06.2018
Es geht ihm besser. Unserem Josef, sage ich. Wir können durchatmen. Heute mal durchatmen. Jetzt durchatmen. Wissen nicht, wie lange wir Zeit haben. Zum Durchatmen. Ja, sagt Uli. Ja.
22.06.2018
Nach dem Frühstück gehen wir spazieren. Hinten am Feld entlang. Ich trage Josef. Ganz dicht bei mir. Möchte es wieder gutmachen. Ihn bei mir haben. Ganz dicht. Den Schmerz nehmen. Die Ohnmacht nehmen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein.
23.06.2018
Ich setze mich auf die Terrasse. Spüre meine Anspannung. Immer auf dem Sprung. So fühle ich mich. Immer zur Stelle, wenn etwas ist. Josef wird wieder wach. Ich gehe sofort zu ihm.
24.06.2018
Dann fragt sie mich, ob ich (hätte ich gewusst, wie es jetzt mit Josef ist) Josef trotzdem so gewollt hätte. Ob ich zu meiner Entscheidung stehe. Damals. Kurz nach seiner Geburt. Auf der Neonatologie.
25.06.2018
Josef ist wach geworden. Die Schwester inhaliert ihn. Saugt ihn vorsichtig ab. Bei jedem der Dinge, die sie macht, spricht sie Josef an. Sagt, Josef, ich sauge dich jetzt ab. Das ist schön. Sie nimmt ihn als Mensch wahr. Als Mensch. Als Mensch.
26.06.2018
Josef wird wieder wach. Ich inhaliere ihn. Sauge ihn ab. Zusammen essen wir Abendbrot. Vor dem Fernseher. Fußball-WM. Deutschland gegen USA. Ich gebe Josef seine Abendmilch. Er schläft bei mir ein.
27.06.2018
Josef macht heute sehr gut mit. Hält sogar seinen Kopf. Für wenige Sekunden. Ich bin glücklich. Jetzt gerade hier bin ich glücklich. Glücklich mit Josef. Dann verabschiedet sich die Physiotherapeutin.
28.06.2018
Um 17.00 Uhr holen Uli und Klara mich ab. Mit dem Auto. Wir zu dritt in unserem Auto. Ohne Josef. Ohne Schwester. Ohne die Absauge. Josef ist zu Hause. Mit der Schwester. Es fühlt sich merkwürdig an.
29.06.2018
Ich frage die Schwester, wie es war. Sie sagt, Josef hatte viel Sekret. Dann sagt sie noch, Josef war nicht so entspannt. Konnte nicht so gut in den Schlaf finden, als wenn ich da bin. Es trifft mich. Unerwartet.