In Bewegung kommen. Krise. Krise. Krise. Einatmen und Ausatmen.
30.07.2018
Dürfen wir das? Josef ins Kinderhospiz geben und wegfahren? Lassen wir ihn dann nicht im Stich? Ich rufe im Kinderhospiz an. Frage, ob vielleicht für vier Tage ein Platz frei ist. Für Josef.
31.07.2018
Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Wir gehen ins Bett. Es war ein schöner Tag, sage ich zu Uli. Josef ist der beste Bruder der Welt. Keine Krise am Geburtstag seiner Schwester, sagt Uli.
01.08.2018
Die Palliativschwester hört zu. Sie sagt, sprechen sie mit Josef. Er versteht das. Sagen sie ihm, für vier Tage sind wir mit Klara in Amsterdam. Der Josef wird es verstehen. Ja, sage ich. Er ist der tollste Sohn der Welt.
02.08.2018
Die Instrumente klingen an. Josef wird ganz unruhig. Plötzlich lautiert er. Schreit. Als würde er hören. Würde die Instrumente hören. Er streckt sich. Ich nehme ihn auf meinen Arm. Wir gehen weiter weg. Von den Instrumenten. Josef beruhigt sich. Josef hört? Josef hörst du?
03.08.2018
Am Nachmittag wird feierlich ein Baum gepflanzt. Für ein verstorbenes Kind. Klara und ihr Obstwiesenfreund spielen dazu. Es ist bewegend. Berührend. Mir laufen Tränen. Ich halte Josef. Halte mich an Josef fest. Einatmen und Ausatmen.
04.08.2018
Sie erklärt. Sagt, Josef. Er hat keine Schutzreflexe. Es kann so schnell gehen, dass er Sekret anatmet. Oder Speichel. Das Husten. Das kann er nicht. Das Schlucken. Das kann er nicht. Das Niesen. Das kann er nicht. Kann er nicht.
05.08.2018
Die Palliativschwester fragt nach Josef. Ich erzähle. Sage, er hat Temperatur und zähes Sekret. Ist erschöpft. Schläft sehr unruhig. Sie rät uns, regelmäßig Schmerzmittel zu geben. Mehr Flüssigkeit. Nasentropfen. Augensalbe. Machen wir, sage ich.
06.08.2018
Josef wird wach. Ich höre die Schwester mit Josef sprechen. Ganz selbstverständlich spricht sie mit ihm. Sagt: Ich nehme dich jetzt aus dem Bett. Jetzt inhaliere ich dich. Sie ist ganz bei Josef. Fast laufen mir Tränen vor Rührung.
07.08.2018
Ich sage Uli, Josef hat nun Schneidezähne oben und unten. Schön. Schmerzhaft. Er braucht sie ja nicht. Seine Zähne. Schön sind sie. Trotzdem. Seine Zähne.
08.08.2018
Wir sind still. Dann sage ich, Josef hat sich gestreckt. In der Nacht hat er sich bewegt, hat die Schwester beobachtet. Ich habe gleich an Krämpfe gedacht. Ich schäme mich, weil ich gleich an Krämpfe gedacht habe.
09.08.2018
Ich kuschele mich an Klara. Wie gleichmäßig sie atmet. Wie warm sie ist. Wie anders sie sich anfühlt als ihr Bruder. Wie anders sie ist. Ich schlafe ein.
10.08.2018
Das Gefühl ist merkwürdig, jemand in seiner eigenen Wohnung zu stören. Jemand Fremden. Jemand, der nicht zur Familie gehört. Zu stören. In seiner eigenen Wohnung. Mit seinem eigenen Kind. Einatmen und Ausatmen.
11.08.2018
Morgen wollen wir mit ihm an die Ostsee, sagt Uli. Geht das? Ja, natürlich geht das. Es ist ihr Kind, sagt die Palliativschwester. Das ist schön, dass sie mit ihm an die Ostsee fahren.
12.08.2018
Wir laufen zum Strand. Es ist windig. Die Sonne kommt ab und zu raus. Es ist leer. Leer für einen Augusttag. Uli baut die Strandmuschel auf. Ich setze mich mit Josef in die Strandmuschel. Küsse ihn. Halte ihn. Sage, wir sind am Meer. Mein Bär. Das Meer.
13.08.2018
Wir umarmen uns. Das tut mir gut. Gehalten zu werden. Ganz kurz gehalten zu werden. Manchmal bin ich so müde vom Halten.
14.08.2018
Wie sehr ich mich schon an das Geräusch der Inhalette gewöhnt habe. An das alles gewöhnt habe. Mich an meine vielen Rollen gewöhnt habe. Weiß, wann ich mich wie zu verhalten habe.
15.08.2018
Die Ärztin. Sagt. Josef wird es hier sehr gut gehen. Sie brauchen die Zeit für sich und Klara und ihren Mann. Das schlechte Gewissen lassen sie hier. Das brauchen sie nicht. Einatmen und Ausatmen.
16.08.2018
Es ist 21.00 Uhr. In einer halben Stunde kommt die Schwester, schießt es mir durch den Kopf. In einer halben Stunde würde die Schwester kommen. Zu Hause. Wir sind nicht zu Hause, denke ich. Wir sind nicht zu Hause.
17.08.2018
In einer Straße entdecken wir ein Kind im Rollstuhl. Wir lächeln ihm zu. Dem Kind und den Eltern. Die gar nicht wissen. Um Josef. Hier sind wir ja nur eine kleine Familie. Es sieht ja niemand. Dass wir den Josef haben.
18.08.2018
Er hatte eine Krampfserie, sagt die Schwester. Es hörte von allein auf. Die Ärztin weiß Bescheid. Sonst geht es Josef gut, sagt sie. Einatmen und Ausatmen. Okay, sage ich. Sollen wir kommen, frage ich.
19.08.2018
Wir gehen ins Haus. Im Foyer brennt eine Kerze. Ein Kind ist gestorben. Es ist ruhig. Im Haus ist es ruhig. Stille. Wir gehen zu Josef. Er schläft. Ich küsse ihn.
20.08.2018
Wir sprechen. Über das Nach-dem-Sterben. Dass Kerzen angezündet werden. Die Eltern entscheiden können, ob das Kind noch bleibt. Bis zu drei Tagen kann es noch bleiben. Entweder im Zimmer. Oder im Abschiedsraum. Die Eltern entscheiden, was passiert, sagt die Schwester.
21.08.2018
Die Schwester lässt das Wasser in die Pflegewanne ein. Vom Flur höre ich laute und kraftvolle Geräusche. Von den anderen Gästen. Ganz schön viel Leben hier, denke ich. Ich spüre, wie die Schwere schwindet.
22.08.2018
Nächste Woche wirst du operiert, mein Josef. Dann bekommst du einen Bauschlauch. Vielleicht wird es besser, denke ich. Dann. Mit der Atmung. Besser. Das wäre schön. Wenn es ein wenig besser wird, mein Josef.
23.08.2018
Die Schwester antwortet. Sagt. Ich kann nicht kommen. Ich habe Gäste geladen. Ihr schafft das schon. Ich sage. Wir brauchen dich. Zwei Stunden. Sie sagt. Ich kann nicht kommen. Verstehe das doch.
24.08.2018
Josef zuckt. Häufiger zuckt Josef. Es hört von allein auf. Ich schreibe es auf. Dokumentiere. Jedes Zucken. Beschreibe die Situation. Beschreibe, was wir gemacht haben. Wie lange. Beschreibe. Beschreibe. Schreibe nieder.
25.08.2018
Um 21.30 Uhr klingelt es. Die Schwester. Ich bin angespannt. Ich spreche sie an. Sage, ich habe mit der Pflegedienstleitung gesprochen. Ich weiß, sagt die Schwester. Dann fragt sie nach Josef. Ich spüre, sie möchte nicht darüber sprechen.
26.08.2018
Es bewirbt sich niemand. Es gibt zu wenig Pflegekräfte. Besonders in unserer Gegend. Wir sind nicht die Einzigen. Manche Eltern werben für sich auf Facebook. Wie absurd, denke ich. Wie absurd. Werbung machen. Mit uns. Und Josef.
27.08.2018
Gespräch mit der Ärztin. Auswertung der Testung. Es tut mir leid, sagt sie. Josef hört nicht. Sehen kann er auch nicht. Es tut mir leid, sagt sie noch einmal. Ich halte Josef. Sage, Josef muss nicht. Er muss gar nichts.
28.08.2018
Ärzte kommen. Drei Ärzte. Sie sagen, Josef braucht einen Zugang. Es gelingt ihnen nicht, einen Zugang zu legen. Dann kommt eine Ärztin von der Kinderintensivstation. Sie sagt, wahrscheinlich wird es nichts mit der Operation heute.
29.08.2018
Um 16.00 Uhr kommen Ärzte in Josefs Zimmer. Sie stellen sich vor. Einer ist der Operateur. Er sagt, heute wird es nichts mehr mit der Operation. Ich möchte nicht, dass sie denken, ihr Sohn ist mir egal.